Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Erdoğan befeuert Wut in der Türkei Es macht fassungslos

Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu wurde verhaftet und abgesetzt. Damit räumt die türkische Justiz den stärksten Rivalen von Recep Tayyip Erdoğan aus dem Weg. Die Demokratie in der Türkei liegt am Boden.
Das Vorgehen wirkt allzu fadenscheinig. Wegen angeblichem Terror- und Korruptionsverdacht lässt der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan seine Justiz gegen Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu vorgehen. Seit Sonntag sitzt İmamoğlu in Untersuchungshaft, wurde aus dem Amt des Bürgermeisters entfernt. Selbst für die türkische Führung ist dieses Vorgehen skrupellos.
Denn die Staatsanwaltschaft veröffentlichte keinerlei Beweise. İmamoğlu wurde ganz offensichtlich aus politischen Gründen verhaftet, da sind sich viele Menschen in der Türkei sicher. Erdoğan nimmt seinen gefährlichsten Rivalen im Kampf um das Präsidentenamt aus dem Rennen und bewirft ihn mit Dreck. Nur einen Tag vor İmamoğlus Verhaftung wurde ihm sein Universitätsabschluss aberkannt, 30 Jahre nach seinem Diplom – eine große Farce. Mehr dazu lesen Sie hier.
Für Erdoğan ist die Verhaftung und Absetzung des Istanbuler Bürgermeisters ein verzweifelter Akt, um sich über das Jahr 2028 hinaus die Macht zu sichern. Um dieses Ziel zu erreichen, verändert der türkische Präsident sein Land immer mehr nach russischem Vorbild. Doch das birgt auch ein Risiko. Immerhin ist İmamoğlu der Spitzenkandidat der größten Oppositionspartei, der kemalistischen und sozialdemokratischen CHP. Doch eben damit könnte der bereits beliebte İmamoğlu zum politischen Märtyrer werden.
Erdoğan orientiert sich an Russland
Erst im Frühjahr 2024 hat der türkische Präsident seine Bevölkerung belogen. Er sprach bei der Kommunalwahl von seinem "Finale", seiner letzten Wahl, für die er und seine AKP noch einmal um Unterstützung warben. Doch all das stimmte nicht. Wie seit einer Rede von ihm Anfang 2025 bekannt ist, will er 2028 erneut antreten und ist sogar bereit, dafür die türkische Verfassung zu ändern.
Erdoğan hat im vergangenen Jahrzehnt Schritt für Schritt die Türkei in eine Autokratie verwandelt. Er hat ein Präsidialsystem errichten lassen, das auf ihn als starken Machthaber zugeschnitten ist. Er hat die Medien gleichgeschaltet und die Justiz ausgehöhlt. Wahlen gelten in der Türkei zwar als frei, sie sind aber nicht fair – aufgrund der Übermacht der regierungsnahen Medien.
In vielen dieser Punkte eifert der türkische Machthaber offenbar Kreml-Chef Wladimir Putin nach. Beide sind über zwei Jahrzehnte an der Macht. Putin baute seinen Staat nach seinen Vorstellungen um und darf laut Verfassung nun wahrscheinlich bis an sein Lebensende im Amt bleiben.
Gut vorstellbar, dass Erdoğan das gleiche Ziel verfolgt. Das hat einerseits praktische Gründe: Seine Familie wird immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht. Sie müsste um ihre Freiheit fürchten, sobald Erdoğan seine Macht verliert. Andererseits gibt sich der Präsident gerne als Sultan, als allmächtiger Herrscher, der sein Land zurück zur Größe des Osmanischen Reiches führen möchte. Erdoğan ließ sich in Ankara einen Palast mit goldenen Toiletten bauen.
Türkei nimmt großen Schaden
Auch dieser Revisionismus verbindet Erdoğan und Putin. Doch zwischen Russland und der Türkei gibt es einen entscheidenden Unterschied: In der Türkei sind viele Menschen stolz auf die Demokratie, viele sind bereit, für ihren Erhalt zu kämpfen. Deswegen wurden auch die Proteste nach der Inhaftierung İmamoğlus schnell zu allgemeinen Demonstrationen, die den Rücktritt der Regierung forderten.
Es ist verständlich, warum so viele Türkinnen und Türken das Machtspiel von Erdoğan lange Zeit mitspielten und ihn mehrfach wählten. Der 71-Jährige mehrte ihren Wohlstand. Noch heute erzählen viele ältere Menschen in Istanbul, wie er als Bürgermeister der Millionenmetropole eine funktionierende Müllabfuhr einführte. Für andere ist Erdoğans größte Leistung, dass er als Staatschef die häufigen Militärputsche und die Unterdrückung der Religion im öffentlichen Leben beendete.
Erdoğan war anfangs gut für die Türkei. Aber er ist es schon lange nicht mehr, seine Zeit scheint nun abgelaufen zu sein.
Dem Präsidenten geht es nicht mehr um sein Land. Die wirtschaftliche Lage ist desaströs und mit den gegenwärtigen Unruhen nach der Verhaftung İmamoğlus sank die heimische Währung Lira im Vergleich zum Euro weiter auf ein Rekordtief. Die Türkei ist wirtschaftlich von der Europäischen Union abhängig, westliche Unternehmen werden aber weniger investieren, wenn die türkische Regierung die eigene Demokratie demontiert.
Deutschland sollte reagieren
Das alles preist Erdoğan allerdings für den eigenen Machterhalt ein. Er rechnet damit, dass er İmamoğlu nun jahrelang einsperren kann und dass die Wutwelle in der Türkei schnell abebben wird. Er denkt wahrscheinlich auch zu Recht, dass die USA unter Präsident Donald Trump ohnehin kein Interesse an den innenpolitischen Konflikten in der Türkei haben. Und er sieht, dass die Europäische Union und insbesondere Deutschland auf den Krieg in der Ukraine, auf die Konflikte mit Trump und auf Russland fokussiert sind.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Auch darin ähnelt Erdoğan Putin: Ein Angriff lohnt sich dann besonders, wenn mögliche Kritiker abgelenkt oder geschwächt sind. So griff Moskau im Februar 2022 die Ukraine in einer Zeit an, in der sich Deutschland kurz nach einem Machtwechsel neu ordnen musste und Frankreich vor einer Wahl stand. Auch Erdoğan geht davon aus, dass die Verhaftung İmamoğlus aktuell keine internationalen Reaktionen auslösen wird.
Diese Haltung ist wenig überraschend. Der türkische Präsident hat die Erfahrung gemacht, dass er bislang stets mit seinem undemokratischen Vorgehen durchgekommen ist. So ließ er bereits 2016 den beliebten kurdischen Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş verhaften, der im vergangenen Jahr zu einer Haftstrafe von 42 Jahren verurteilt wurde. Internationalen Protest gibt es zwar regelmäßig für sein Vorgehen, jedoch bleibt dieser meist ohne Konsequenzen für Erdoğan.
İmamoğlu ließ nun über seine Anwälte mitteilen: "Ich habe eine weiße Weste und sie werden mich nicht beschmutzen können. Ich werde keinen Zentimeter zurückweichen. Ich werde diesen Krieg gewinnen." Ob das gelingt, hängt auch von der internationalen Unterstützung für die türkische Opposition ab – und die ist keinesfalls sicher. Denn die Türkei ist mit Blick auf die gegenwärtigen geopolitischen Konflikte ein wichtiger Partner – und viele Nato-Mitglieder haben aktuell kein Interesse an einem Konflikt mit Erdoğan.
Trotzdem sollte die kommende Bundesregierung Erdoğan nach der Verhaftung von İmamoğlu Grenzen aufzeigen. Rüstungsdeals, Visa-Erleichterung, wirtschaftliche Kooperationen: All das muss auf den Prüfstand gestellt werden. Deutschland und die Türkei sind eng miteinander verbunden. Die Bundesregierung verfügt über wirkungsvolle Hebel, um die türkischen Demokraten in ihrem Kampf gegen Erdoğan zu unterstützen. Sie sollte sie nutzen.
- Eigene Recherche