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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Syrien nach dem Sturz von Assad "Diese Entwicklung ist bemerkenswert"
Nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad steht Syrien vor einem Neuanfang – und vor riesigen Problemen. Doch in welche Richtung steuert das Land? Nahostexpertin Helberg gibt einen Überblick.
Am Ende ging alles sehr schnell. 54 Jahre lang hatte die Assad-Familie über Syrien geherrscht. Die letzten 14 Jahre hielt sich Diktator Baschar al-Assad mit Gewalt im Bürgerkrieg an der Macht. Doch dann fiel das Regime in nur wenigen Wochen zusammen. Die Rebellen stürmten Damaskus, Assad floh aus dem Land und Bürger plünderten seine Residenz. Das war vor einem Monat – was hat sich seitdem getan?
Für Kristin Helberg steht Syrien am Scheideweg. Die Nahostexpertin und Journalistin hat jahrelang in Syrien gelebt und gearbeitet – bis das Regime ihr im Frühjahr 2011 die Einreise verweigerte. "Die Dynamik der Veränderungen in Syrien ist schwindelerregend", sagt sie im Gespräch mit t-online.
Die Übergangsregierung
Seit dem Sturz Assads beobachtet Helberg, wie verschiedene Kräfte in Syrien darum ringen, die Entwicklung des Landes mitzubestimmen. "Ahmad al-Scharaa trifft jeden Tag sehr viele Menschen und bemüht sich, Vertrauen aufzubauen", meint Helberg. Doch die Übergangsregierung des ehemaligen Führers der Rebellengruppe HTS ("Haiʾat Tahrir asch-Scham") hat auch immer wieder beunruhigende Nachrichten ausgelöst.
So passte etwa der neue Bildungsminister Mohammed al-Kadri die schulischen Lehrpläne an, um die Verherrlichung des Assad-Regimes zu streichen. Doch dabei ging er noch weiter und kürzte gleich die Evolutionslehre heraus. "Das eigene Weltbild auf diese Art festzuschreiben, geht über die Kompetenz einer Übergangsregierung hinaus", kritisiert Kristin Helberg. Viele Syrer reagierten empört, daraufhin erklärte das Ministerium, die Änderungen seien "vorübergehend".
Zur Person
Kristin Helberg ist eine deutsche Journalistin aus Heilbronn. Sie hat von 2001 bis 2008 in Damaskus gelebt und unter anderem für die ARD, den ORF und das Schweizer Fernsehen aus Syrien berichtet. Sie hat bislang drei Bücher über das Land und den Bürgerkrieg verfasst.
Die Übergangsregierung handelt laut Helberg derzeit oft "intransparent", was Unsicherheit schüre. Deshalb sei die "Konferenz des nationalen Dialogs" entscheidend. Die Konferenz lässt der de-facto Machthaber Ahmad al-Scharaa aktuell vorbereiten, sie soll eine Übergangsregierung wählen, eine Verfassung ausarbeiten und Wahlen für das Land vorbereiten. Dazu sollen Männer und Frauen aus dem Volk eingeladen werden. Der Prozess könnte jedoch noch drei oder vier Jahre dauern, schätzt Helberg ein.
Der neue Staat
Doch zuvor gilt es noch für al-Scharaa und die Übergangsregierung, die anderen Akteure im Land für das neue Syrien zu gewinnen. "Entscheidend für die Einheit Syriens wird die Einbindung der Kurden im Nordosten sowie der Drusen im Süden sein", sagt Helberg. Dazu spricht Scharaa aktuell mit Mazlum Abdi, dem Anführer des kurdisch dominierten Militärbündnisses "Demokratische Kräfte Syriens" (SDF). Helberg schätzt die Chancen gut, dass sich die Seiten einig werden könnten. "Das läuft ziemlich professionell. Da dringt wenig nach außen, das ist ein gutes Zeichen."
Um den kurdisch dominierten Nordosten in den neuen Staat zu integrieren, sei eine dezentrale Ordnung notwendig. Dabei müssten die militärischen Verbände der SDF in die staatlichen Verteidigungskräfte eingegliedert werden, aber in ihren Heimatregionen stationiert bleiben dürfen. "Praktischerweise fordern die Drusen inzwischen das Gleiche, das könnte die Verhandlungen vereinfachen", sagt Helberg.
Doch bevor der Bürgerkrieg in Syrien wirklich endet, könnte es noch eine Weile dauern. Das liegt auch daran, dass zwei ausländische Akteure weiterhin in Kampfhandlungen in Syrien verwickelt sind. Während der israelische Premier Benjamin Netanjahu die militärische Infrastruktur Syriens zerstören und Teile des Landes im Südwesten besetzen lässt, greifen von der Türkei kontrollierte Milizen die Kurden im Nordosten an. Dabei sind im vergangenen Monat mindestens 322 Menschen getötet worden, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. "Die Türkei und Israel erschweren den Neustart", sagt Helberg, und fordert die Staaten zur Zurückhaltung auf.
Rädchen im Getriebe
Angesichts dieser vielen Unwägbarkeiten hält die Expertin vor allem eine Entwicklung in Syrien nach Assads Sturz für "bemerkenswert". "Der Staat funktioniert einfach weiter", meint Helberg. Nachdem das Regime zusammengebrochen ist, habe es keinen Verfall oder interne Kämpfe gegeben. "Die Menschen gehen wieder zur Arbeit, um alles am Laufen zu halten. Jeder fühlt sich zuständig für den neuen Staat." Und das, obwohl viele Menschen ein gestörtes Verhältnis zur Staatsführung hätten, weil dieser jahrzehntelang gewalttätig und korrupt handelte.
"Das Führungspersonal im Innen- und Verteidigungsministerium, in den Geheimdiensten und im Militär muss zur Rechenschaft gezogen werden", sagt Helberg, denn ohne Gerechtigkeit keine Aussöhnung. Die meisten Beamten seien jedoch Mitläufer gewesen. "Sie haben den Kopf eingezogen und versucht zu überleben", erkärt sie. "Jeder war zwar ein Rädchen im Getriebe, aber wer keine Verantwortung für Gewalttaten trägt, sollte weiterarbeiten können."
Baschar al-Assad konnte sich so lange an der Macht halten, weil er die Opposition mit Gewalt unterdrückte und gleichzeitig Loyalität großzügig belohnte. Ein Merkmal dieses "mafiösen Systems" seien die fiktiven Beamten des Staats, erklärt Helberg. "Viele Menschen haben für das Nichtstun Geld bekommen", sagt Helberg. Eine Anstellung beim Staat war für Assad ein Mittel, um Anhänger zu belohnen, an sich zu binden und zu benutzen."
Insgesamt beschäftigt der syrische Staat 1,3 Millionen Angestellte. Wie viele davon fiktiv sind, versucht die neue Regierung aktuell herauszufinden. Denn schon nächsten Monat sollen die zum Teil sehr niedrigen Gehälter der tatsächlich arbeitenden Beamten um 400 Prozent erhöht werden. Die Kosten dafür werden auf knapp 130 Millionen US-Dollar geschätzt. Bei der Finanzierung will wohl Katar aushelfen. Auch die Türkei und Saudi-Arabien stehen schon als zukünftige Geldgeber bereit. Doch das dürfte lange nicht ausreichen, denn das Land braucht viel mehr Geld.
Wirtschaften ohne Haupteinnahmequelle
"Die Wirtschaft Syriens liegt am Boden. Große Teile des Landes und der Infrastruktur sind zerstört", sagt Helberg. Der Wiederaufbau könnte zwischen 250 und 400 Milliarden Dollar kosten, andere Schätzungen liegen jedoch viel höher – bei schwindelerregenden Billionen Dollar. "Den Aufbau des Landes kann Syrien nur mit massiver Hilfe aus dem Ausland stemmen."
Syrien braucht eine neue wirtschaftliche Basis, denn nach dem Sturz des Diktators ist die Haupteinnahmequelle des Staats weggebrochen. "Assad hat vom Drogengeschäft gelebt", erklärt Helberg. Wie jüngste Recherchen belegen, hat das Regime riesige Mengen Captagon produziert und mit dem billigen Amphetamin die Märkte der Nachbarländer geflutet. Die HTS hat die entsprechenden Labore inzwischen zerstört.
Die zweitwichtigste Einnahmequelle für den syrischen Haushalt waren internationale Hilfen und eine Mehrheit der Syrer ist von diesen Geldern abhängig. Bei der jährlichen Geberkonferenz in Brüssel kamen im Frühjahr 2024 über sieben Milliarden Dollar zusammen. "Deutschland war zusammen mit den USA in den vergangenen Jahren der größte Unterstützer im humanitären Bereich", sagt Helberg.
Vor dem Sturz des Regimes bemühten sich die Vereinten Nationen, das Geld an unabhängige Hilfsorganisationen zu verteilen. Doch tatsächlich erhielten nur von Assad abgesegnete Gruppen Geld – oder es landetet direkt bei "Syria Trust for Development", einer Organisation von Asma al-Assad, der Ehefrau des Diktators. Dabei wurde wohl auch viel Geld veruntreut. "Wenn die UN-Organisationen ihre Gelder jetzt endlich nach Bedarf verteilen, kann den Menschen viel effektiver geholfen werden", schätzt Helberg ein.
Doch langfristig müsse das Land wieder auf eigenen Beinen stehen, sagt Helberg. Dabei sei die Landwirtschaft am wichtigsten, damit sich das Land wieder selbst versorgen kann. Außerdem könnten die Ölfelder effektiver genutzt werden, so die Expertin. Die liegen im Nordosten des Landes und damit bislang unter der Kontrolle der kurdischen Selbstverwaltung. Dort sei die Förderung jedoch rudimentär, der Rohstoff würde mit primitiven Pumpen aus dem Boden geholt und Umwelt und Gesundheit der dort lebenden Menschen belastet, sagt Helberg. Syrien müsse in der Region Raffinerien errichten und in die Ölwirtschaft investieren, um das Potenzial auszunutzen.
Trotz der großen Herausforderungen zeigt sich die Expertin zuversichtlich, was die Zukunft der syrischen Wirtschaft angeht. "Es gibt unter Syrern viel Expertise und im Land eine Privatwirtschaft, die Jahrzehnte des Sozialismus überlebt hat, die anpassungsfähig und kreativ ist. Wenn Syrien Freiheit und Sicherheit garantiert, wird sich das Land entwickeln", meint Helberg.
- Gespräch mit Kristin Helberg
- n-tv.de: "Eine Frau soll für Syriens Islamisten das Finanzsystem retten"
- deutschlandfunk.de: "Kommission soll Konferenz des nationalen Dialogs vorbereiten"
- dw.com: "Annalena Baerbock Syrien: Handschlag oder Händeschütteln? Faktencheck"
- spiegel.de: "Syrien: Die neuen Machthaber gehen gegen Captagonfabriken des Assad-Regimes vor"
- thearabweekly.com: "Turkey, Qatar supplying Syria with electricity-generating ships off-shore for new regime's stability" (Englisch)
- thelevantnews.com: "Qatar seeks to finance salaries of Syrian state employees after sanctions lift" (Englisch)
- newarab.com: "Syria interim government to hike public sector salaries by 400%" (Englisch)
- berliner-zeitung.de: "Syrien: Änderungen im Lehrplan lösen Proteste aus – neue Führung verteidigt Pläne"
- n-tv.de: "Syrien plant Erhöhung von Beamten-Gehältern um 400 Prozent"