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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schicksalswahl in Georgien Im Südkaukasus droht das Ukraine-Szenario
Georgien stimmt an diesem Samstag über ein neues Parlament ab. Es ist eine Schicksalswahl: Schlägt das Land den Weg Richtung Moskau oder in die EU ein?
Bidsina Iwanischwili spricht nur selten mit den Medien. Der Milliardär war in den vergangenen Jahren die prägende Figur der Politik Georgiens. Doch an diesem Samstag droht seiner Regierungspartei "Georgischer Traum" nach zwölf Jahren an der Macht der Weg in die Opposition. Grund genug für Iwanischwili, dem staatlichen Sender Imedi eines seiner seltenen Interviews zu geben. In anderthalb Stunden zeichnete er düstere Szenarien, sollte die Opposition in der Südkaukasusrepublik an die Macht kommen.
Eine "globale Kriegspartei", die mit der Opposition verbandelt sei und westliche Institutionen wie die Nato kontrolliere, wolle in seinem Land eine "zweite Front" des russischen Kriegs gegen die Ukraine eröffnen, lautet eine der Verschwörungserzählungen, die er dabei äußerte. "Wir müssen aufpassen, dass wir keinen falschen Schritt machen, sonst kann es zu einer unumkehrbaren Katastrophe kommen", warnte er mit Blick auf globale Krisenlagen.
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Iwanischwili und seine Partei haben in den vergangenen zwei Jahren eine erstaunliche Kehrtwende unternommen. Bei ihrer Machtübernahme 2012 verfolgte der "Georgische Traum" zunächst noch einen pro-westlichen Kurs, wenn auch Russlands Interessen nie ganz außer Acht gelassen wurden. Seit zwei Jahren aber – nach der großangelegten Invasion Russlands in die Ukraine – biedert sich die Regierungspartei zunehmend dem Kreml an.
Doch dieser Kurs könnte der Partei und letztlich auch Iwanischwili zum Verhängnis werden. Nämlich dann, wenn sich das Land gegen Putin und für einen Kurs Richtung EU entscheidet.
"Es ist eine Müdigkeit im Land zu spüren"
Experte Stephan Malerius erklärt im Gespräch mit t-online, dass, obwohl die Wahl als richtungsweisend gilt, der Wahlkampf in den vergangenen Wochen recht ruhig verlaufen sei. Malerius leitet das Regionalprogramm "Politischer Dialog Südkaukasus" der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Dort habe es weder größere Proteste noch Unruhen gegeben. Großkundgebungen von Opposition und Regierung vor der Wahl dienten vor allem der Wählermobilisierung. Und doch hat sich etwas verändert in Georgien.
Zur Person
Stephan Malerius leitet das Regionalprogramm "Politischer Dialog Südkaukasus" der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zuvor war er unter anderem Chef des Stiftungsbüros in Belarus. Malerius studierte Slawistik in Warschau und Hamburg.
"Es ist eine Müdigkeit im Land zu spüren", sagte Malerius mit Blick auf zwölf Jahre der Regierung unter der Partei "Georgischer Traum". Es gebe daher eine "Wechselstimmung" in der Bevölkerung. "Doch das bedeutet nicht, dass die Opposition leichtes Spiel hat: Die Menschen wollen vor allem die derzeitige Regierung abwählen, im Gegenzug aber nicht unbedingt die Opposition wählen."
Opposition erstmals geeint
Die Opposition in Georgien galt jahrelang als tief gespalten. Sie schaffte es kaum, ein starkes Gegengewicht zur Regierung zu bilden. Bei diesen Parlamentswahlen ist das anders. Insgesamt haben sich vier Oppositionsblöcke herausgebildet, die das Ziel haben, die Regierungspartei abzulösen.
- Tumulte bei Georgien-Wahl: Präsidentin zeigt sich beunruhigt – Strafverfahren eingeleitet
Dazu zählt die bisher stärkste Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung (UNM), die sich im politischen Spektrum Mitte-rechts verorten lässt. Hinzu kommt Achali, ein Zusammenschluss liberal-konservativer Parteien und Bewegungen. Unter dem Namen Starkes Georgien firmiert außerdem ein Bündnis linksliberaler Bewegungen. Und nicht zuletzt gehört die Zentrumspartei Für Georgien zur Opposition: Ihr Vorsitzender ist Giorgi Gacharia, ehemals Premierminister und Mitglied von Georgischer Traum.
Umfragen zufolge könnten die vier Oppositionsblöcke gut 55 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen erreichen. Georgischer Traum wäre demnach mit allein rund 35 Prozent noch immer stärkste Kraft, könnte jedoch nicht aus eigener Kraft eine Regierung bilden. Und zudem würde die derzeitige Regierungspartei ein erklärtes Ziel ihres Gründers Iwanischwili deutlich verfehlen: die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament.
Iwanischwili will Staat umfassend umbauen
Seine Partei bräuchte diese Mehrheit, um Änderungen an der Verfassung vornehmen zu können. Dafür ist Iwanischwili persönlich wieder aus dem Schatten getreten. Zwischen 2012 und 2013 war er Premierminister Georgiens. Ab 2018 übernahm er dann wieder die Parteiführung, führte den Georgischen Traum 2020 erneut zur Mehrheit im Parlament und trat daraufhin vom Parteiamt zurück. "Iwanischwili hat es mit seinem großen Vermögen seit etwa 2012 geschafft, wichtige Bereiche des Staatsapparats zu übernehmen", sagt Malerius.
Nun ist er zurück auf der großen politischen Bühne, tritt als Kandidat für seine Partei auf Listenplatz eins bei den Wahlen an – und hält mit seinen Plänen für Verfassungsänderungen nicht hinter dem Berg.
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Iwanischwili erklärte im August, dass er "das politische System grundlegend erneuern" wolle. Im Auge hat er dabei vor allem die liberale Opposition, die er als "kollektive UNM" bezeichnet und abschaffen möchte. 2012 hatte Georgischer Traum die UNM zwar als Regierungspartei abgelöst, das Feindbild hat Iwanischwili in dieser Zeit jedoch offenbar nicht abgelegt.
Vieles davon hat mit seinem großen Gegenspieler Micheil Saakaschwili, langjähriger Präsident und UNM-Chef, zu tun. Iwanischwili gründete seine Partei vor allem, um Saakaschwili aus dem Amt zu vertreiben und die Macht zu übernehmen. Der Milliardär warf dem damaligen Staatspräsidenten vor, das Land ausrauben zu wollen.
2018 wurde Saakaschwili in Abwesenheit zu einer sechsjährigen Haft verurteilt. Als Präsident soll er das Verprügeln eines oppositionellen Abgeordneten angeordnet haben. Als er 2021 überraschend in seine Heimat zurückkehrte, wurde er inhaftiert.
"Die Georgier warten immer wieder auf einen 'Erlöser'", erklärt Malerius, warum die georgische Politik über Jahre hinweg vor allem durch diese beiden Politiker personifiziert wurde. Auch deshalb sei die Gesellschaft vor den anstehenden Wahlen dermaßen polarisiert.
Georgier lehnen sich gegen "russisches Gesetz" auf
Als graue Eminenz seiner Partei ist es wohl vor allem Iwanischwili zuzuschreiben, dass es zuletzt politische Entwicklungen gab, die immer wieder zu breitem Protest der Bevölkerung führten. Im Mai erließ die Regierung ein umstrittenes Gesetz gegen "ausländische Einflussnahme". Es ähnelt der russischen Gesetzgebung gegen "ausländische Agenten". Dabei geht es vor allem um die Unterdrückung Oppositioneller.
Die Georgier gingen in Massen gegen das von ihrer Regierung verabschiedete "russische Gesetz" auf die Straße, Brüssel fror den EU-Beitrittsprozess mit Georgien ein und die USA verhängten Sanktionen gegen georgische Beamte wegen "brutaler Unterdrückung" von Demonstranten. Anfang Oktober löste ein weiteres Gesetz, das die Rechte der LGBTQ-Minderheit einschränkt, weitere Spannungen zwischen Brüssel und Tiflis aus.
Die Annäherung an Russland könnte Iwanischwilis Pläne zum umfangreichen Umbau des georgischen Staats letztlich zerstören. "Er hat dabei schwere Fehler begangen", sagt Georgien-Experte Malerius. "Seit der russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 distanzieren sich immer mehr Georgier von Russland und halten das Land für gefährlich."
Das Gesetz über "ausländische Einflussnahme" habe letztlich die Opposition gestärkt und geeint. "Es gab keine innenpolitische Notwendigkeit für ein solches Gesetz." Auch deshalb habe es die großen Proteste gegeben.
Was Georgien nach der Wahl bevorstehen könnte
Proteste könnten dem Land auch nach der Wahl bevorstehen. Entscheidend wird dabei sein, wie sich Iwanischwili und seine Partei verhalten. Malerius hält dabei zwei Szenarien für möglich: Im ersten Szenario erkennt die amtierende Regierung des Georgischen Traums eine mögliche Abwahl nicht an und versucht, mittels Wahlmanipulation Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Ergebnisses zu streuen.
"Das führt dann zu großen Straßenprotesten, die womöglich auch gewalttätig verlaufen", so Malerius. Dieses Szenario erinnert an die Proteste auf dem Maidan-Platz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew im Winter 2013/14. Es war der Ausgangspunkt für die russische Kampagne gegen die Ukraine, die letztlich in der großangelegten Invasion im Februar 2022 gipfelte.
Für wahrscheinlicher hält Malerius jedoch das zweite Szenario, das er als "polnisches Szenario" bezeichnet. Nach den Parlamentswahlen in Polen im Oktober 2023 hatte eine vom heutigen Ministerpräsidenten Donald Tusk angeführte liberalkonservative Koalition die rechtspopulistische PiS-Regierung abgelöst. PiS war zwar erneut stärkste Kraft geworden, verfehlte jedoch eine Mehrheit im Parlament.
In diesem Szenario würde Georgischer Traum das Ergebnis bei ihrem Wahlsieg wohl anerkennen, meint Malerius. Doch dann kämen die Probleme, denn die Koalitionsbildung wäre mit einem knappen Ergebnis verhältnismäßig schwierig. "Die wichtigste Frage dabei ist: Bleibt die Opposition geschlossen?"
"Für Georgien wäre das fatal"
Der Milliardär Iwanischwili könnte die Geschlossenheit der Opposition auf die Probe stellen: "Das politische Geschehen würde sich dann in die Hinterzimmer verlagern, was Iwanischwili die Chancen gebe, mit Geld und Einfluss die Regierungsbildung zu beeinflussen", so Malerius. "Für Georgien wäre das fatal, ein Desaster." Der Experte hält das gesellschaftliche Eskalationspotenzial zwar für deutlich geringer, "doch ein solch intransparenter politischer Prozess könnte der georgischen Demokratie nachhaltig schaden".
Bisher zeigt sich die Opposition laut Malerius noch "wild entschlossen", die Regierung in Tiflis ablösen zu wollen. "Doch so einig wie etwa in Polen ist sie derzeit gewiss nicht." Der Experte rechnet nicht damit, dass es vor Jahresende politische Klarheit in Georgien geben wird.
- Telefoninterview mit Stephan Malerius
- kas.de: "Georgien wählt: Ruhe vor dem Sturm?"
- civil.ge: "Bidzina Ivanishvili TV Interview Ahead of Elections" (englisch)
- reuters.com: "Georgia's shark-owning billionaire tells voters: Don't risk war with Russia" (englisch)
- tagesschau.de: "Ein georgischer Albtraum"
- Mit Material der Nachrichtenagentur AFP