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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Hundetötungen, Lira-Absturz, Olympia-Fiasko Erdoğan steht im Pleiten-Regen
Präsident Recep Tayyip Erdoğan steht in der Türkei massiv unter Druck. Während die Lira auf ein Rekordtief fällt, erzeugen die türkischen Pleiten bei Olympia und Erdoğans geplante Tötung von Straßenhunden große Wut.
Sie gehören zum Stadtbild vieler türkischen Metropolen dazu: Straßenhunde und -katzen. Verhältnismäßig wenige Türkinnen und Türken besitzen Haustiere. Stattdessen kümmert sich die Bevölkerung in den Städten um Hunde und Katzen, die auf der Straße leben. Sie werden täglich gefüttert, sehen größtenteils wohlgenährt aus und bekommen sogar regelmäßig eine gesundheitliche Versorgung.
Besonders in Istanbul gehören die Tiere zur kulturellen Vielfalt der Metropole; insgesamt soll es knapp 300.000 Hunde geben, die oft etwa an U-Bahnhöfen, Fährstationen oder dem belebten Taksim-Platz ein Nickerchen machen – vor Hundenäpfen, die Anwohner dort hingestellt haben. Landesweit soll es mehr als vier Millionen Streuner geben, die sich rasant vermehren.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die streunenden Hunde jetzt zum Problem erklärt. "In keinem anderen Industrieland gibt es derartige Schwierigkeiten mit Straßenhunden", sagte er im Mai und verwies auf die Tollwutgefahr, die von den Tieren ausgeht. Deswegen will die AKP ein Gesetz durchsetzen, das Millionen Tieren eine Gnadenfrist von 30 Tagen gibt. Wenn sich bis dahin keine Besitzer für die Hunde gefunden werden, sollen Hunderttausende getötet werden.
Die aufgeheizte Hundedebatte trifft in der Türkei auf eine stark polarisierte Gesellschaft. Einerseits laufen in diesem Sommer Tausende Menschen in diesem Sommer in Städten wie Istanbul, Izmir oder Ankara Sturm. Andererseits sehen einige gläubige Muslime die Hunde als Symbol der Unreinheit und Erdoğan machte dekadente westliche Eliten für das Problem verantwortlich, weil nur sie sich laut dem Präsidenten Haustiere leisten können. Aber eben nicht nur die CHP, sondern auch der Chef der islamistischen Yeniden-Refah-Partei, die der AKP nahesteht, erklärte: Nur Allah könne das Leben nehmen, welches er geschenkt hat.
Das Hunde-Thema steht exemplarisch für das gegenwärtige Dilemma des türkischen Präsidenten. Erdoğan steckt innenpolitisch in der Klemme, die Lira stürzt auch im August weiter ab, die Inflationsrate ist weiterhin hoch. In dieser Lage versucht der Präsident, etwa mit einer Debatte über die Tötung von Hunden, die Gesellschaft zu spalten und abzulenken. Aber diese Strategie geht immer weniger auf, derartige Manöver fliegen ihm um die Ohren.
Absturz der Lira geht weiter
Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, die gegenwärtige Misere der AKP lediglich auf ein einzelnes Thema zu reduzieren. Erdoğans Partei liegt in aktuellen Umfragen im Schnitt drei Prozent hinter der oppositionellen CHP. Auch wenn die AKP politisch angeschlagen war, war sie landesweit zumindest immer noch die stärkste politische Kraft. Obgleich es bei den Meinungserhebungen in der Türkei oft eine hohe Abweichung zwischen Umfragen den tatsächlichen Ergebnissen, ist dieser Trend für Erdoğan beunruhigend.
Hinzu kommt, dass er in Beliebtheitsumfragen mittlerweile hinter dem CHP-Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, rangiert. Im Juli gaben laut dem Umfrageinstitut ASAL im Political Agenda Survey nur noch 19 Prozent der Türkinnen und Türken an, dass Erdoğan ihr Lieblingspolitiker sei.
Das liegt in erster Linie an der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei und am Hauptproblem des Landes: der Inflation. Laut dem türkischen Statistikamt ging diese im Juli zwar leicht auf 61,8 Prozent zurück, im Juni waren es noch 71 Prozent.
Aber der tatsächliche Wert dürfte noch weit darüber liegen. Das unabhängige Forschungsinstitut ENAG etwa nennt eine Rate von knapp 101 Prozent. Hinzu kommt ein Währungsverfall im Vergleich zum Euro und zum US-Dollar. Mitte August war ein Euro knapp 37 Lira wert, ein neues Tief für die türkische Währung. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren gab es für einen Euro nur weniger als drei Lira.
Fatale Folgen der Wirtschaftskrise
Die Folgen für die türkische Bevölkerung sind fatal. Lebensmittel und Mieten sind für einen Teil der Gesellschaft nahezu unbezahlbar geworden. Die Energiepreise steigen, größere Anschaffungen sind kaum mehr möglich und vieles von dem, was die Türkei importieren muss, ist nur noch schwer bezahlbar.
Der Istanbuler Politikberater Suat Özcelebi sagte der Tagesschau: "Wenn die Menschen ihre Miete zahlen, haben sie schon 80 Prozent ihres Gehalts ausgegeben und versuchen mit den restlichen 20 Prozent auszukommen." Immer mehr Türkinnen und Türken würden unter der Armutsgrenze leben.
Verantwortlich machen sie dafür auch Erdoğan. Immerhin hatte er vor seiner Wiederwahl im vergangenen Jahr versprochen, diese Probleme in den Griff zu bekommen. Ohne Erfolg.
Eines der Erfolgsgeheimnisse der AKP war immer die Zuschreibung von wirtschaftlicher Kompetenz, doch mittlerweile geben 81 Prozent der Türkinnen und Türken laut einer Umfrage des Instituts Metropoll an, dass ein wirtschaftliches Missmanagement in der Regierung vorliegen würde.
In derartigen Situationen hat die türkische Führung in der Vergangenheit oft auf Ablenkungsmanöver gesetzt, die die Gesellschaft emotional aufheizen sollten. Das Kalkül dahinter: Erdoğan kann in emotionalen Streitfragen seine Anhänger besonders gut mobilisieren, die anderen Probleme rücken in den Hintergrund. Entweder der türkische Präsident suchte Streit mit der Europäischen Union, mit Griechenland oder Deutschland oder er eskalierte den Konflikt mit der kurdischen Terrororganisation PKK. Auch in der aktuellen Situation sind Ansätze dieser Strategie erkennbar.
"Nichts, von dem wir behaupten könnten: Das läuft gut"
So stellte sich der türkische Staatschef nach anfänglichem Zögern hinter die Terrororganisation Hamas in ihrem Krieg gegen Israel. Die türkische Bevölkerung steht traditionell hinter dem palästinensischen Kampf für einen eigenen Staat.
Es kommt durchaus gut bei einem großen Teil der Bevölkerung an, dass Erdoğan vehement gegen die israelische Führung unter Benjamin Netanjahu schießt, den israelischen Premier sogar mit Adolf Hitler vergleicht. Dass er das sogar mit Kriegsdrohungen gegenüber Israel verpackt, ist Ausdruck davon, wie angeschlagen er innenpolitisch ist.
Es ist also keine Überraschung, dass der türkische Staatschef den Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas in die Türkei einlud. Das wird in der Sache für die Palästinenser wenig verändern, weil sich die türkische Führung mit tatsächlicher Hilfe bislang eher zurückgehalten hat. Doch Erdoğan wird versuchen, mit lauten Tönen innenpolitisch zu punkten.
Aber auch im Umgang mit dem Konflikt schoss der türkische Präsident ein Eigentor. Instagram hatte Beileidsbekundungen für den getöteten Hamas-Chef Hanija gelöscht, woraufhin Erdoğan das soziale Netzwerk eine Woche sperren ließ. Das kam bei den Millionen Menschen, die die Plattform in der Türkei nutzen, nicht gut an.
Bei anderen Themen verlief die Bruchlandung aus Perspektive der türkischen Regierung allerdings noch schlimmer. Ein Beispiel dafür sind die Olympischen Spiele. Die Türkei ist traditionell ein Land, in dem Sport unheimlich viele Emotionen freisetzt.
Bei großen Siegen stürmen Hunderttausende auf die Straßen, um zu feiern. Doch bei den Olympischen Spielen in Paris gewann das Land erstmals seit 1984 keine einzige Goldmedaille. In anderen europäischen Staaten würde ein derartiges Ergebnis zwar auch mit Missmut aufgenommen werden, aber für die Türkei ist das eine Katastrophe. Schließlich hatte Erdoğan das "Jahrhundert der Türkei" ausgerufen und das gelte schließlich auch für den Sport, heißt es.
Die Nerven im türkischen Parlament liegen nach Olympia blank. Die oppositionelle CHP macht die AKP dafür verantwortlich, weil sie zu sehr auf Religionsunterricht in der Früherziehung setzt. Die Opposition möchte nach dem Debakel sogar einen Olympia-Untersuchungsausschuss einberufen. Mit etwas Glück hätte Olympia der türkischen Führung eine Atempause geben können, doch auch das blieb aus.
Politikberater Özcelebi bilanzierte in der Tagesschau: "Es gibt momentan kein großes Problem, was das türkische Volk nicht erlebt. Es gibt nichts, von dem wir behaupten könnten: Das läuft gut."
Erdoğan braucht also dringend Erfolgserlebnisse und vielleicht ist es ausgerechnet das, was den Straßenhunden am Ende das Leben retten wird. Denn eines kann der Präsident eigentlich aktuell nicht gebrauchen: Auf den Straßen im Land als "Hundemörder" beschrieen zu werden.
- tagesschau.de: "Von allen Seiten unter Druck"
- saglikpersoneli.com.tr: "Türkiye'de en beğenilen siyasetçi anketi" (türkisch)
- economist.com: "Turkey’s president refuses to let sleeping dogs lie" (englisch)
- tagesspiegel.de: "Schlechte Umfragewerte nach Misserfolg türkischer Athleten bei Olympia"
- spiegel.de: "Werden in der Türkei bald Millionen Hunde gekeult?"
- deutschlandfunk.de: "Erdogan setzt auf harte Rhetorik"
- tagesschau.de: "Es wird nicht mehr ganz so schnell teurer"
- politpro.eu: "Polls and trends for the Turkish election 2028" (englisch)