Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Europas Anker in Afrika Jetzt könnte es kippen
Senegal galt als Stabilitätsanker in Afrika. Doch in dem Land droht die Stimmung zu kippen.
Senegal ist bekannt für den Fußballer Sadio Mané, der in den vergangenen Jahren für Bayern München spielte. Das Land ist ebenso bekannt für seine freundlichen Menschen und die seit der Unabhängigkeit stabile politische Situation, direkt in der Nachbarschaft der Sahel-Region, die durch mehrere Militärputsche und zunehmende Präsenz russischer Wagner-Söldner der internationalen Gemeinschaft und vor allem den Europäern große Sorge bereitet. Jetzt wurde die wichtigste Wahl in Senegal kurzfristig und sehr überraschend abgesagt, per Präsidentendekret.
Macky Sall begründete seinen Schritt durch Zweifel an den Entscheidungen des Verfassungsrates und der Befürchtung, die gegenwärtige Konstellation könne zu einer Nichtanerkennung der Wahlergebnisse führen und damit die Stabilität des Landes gefährden. Zwei Anträge der Parlamentsfraktion der liberalen PDS ("Parti Democratique Senegalais") waren ihm zur Kenntnis gebracht worden. Der erste Antrag zielte auf Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission ab, weil Vorwürfe der Korruption zweier Richter im Verfassungsrat im Raum standen. Der zweite Antrag beinhaltete unter anderem einen Vorschlag auf Verschiebung des Wahltermins, um besagte Zweifel auszuräumen.
Zur Person
Caroline Hauptmann leitet seit 2021 das Länderprojekt Senegal der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) mit Sitz in Dakar. Die KAS ist eine der CDU ideell nahestehende Denkfabrik, die sich unter anderem für die europäische Verständigung einsetzt.
Pikant ist, dass sich die Inhalte der Anträge auf den Fall des nicht zugelassenen Spitzenkandidaten und Parteiführers der PDS, Karim Wade, beziehen. Er war als Kandidat ausgemustert worden, weil er doppelte Staatsbürgerschaft besitzt. Er gab an, diese aufgegeben zu haben und beschuldigte die Richter der Korruption. Der Verfassungsrat ist das Gremium, das die 93 Bewerbungen auf das Präsidentenamt überprüfen musste. 20 Kandidaten waren zugelassen worden. Ein weiterer Fall von doppelter Staatsbürgerschaft wurde bekannt, die Person für kurze Zeit festgenommen.
Das Parlament entschied sich für die Annahme des ersten Antrags zur Einrichtung einer Untersuchungskommission. Der zweite Antrag konnte vor Kampagnenbeginn nicht mehr rechtzeitig debattiert und regelkonform abgestimmt werden.
Diese komplexe Situation löste wahrscheinlich die überraschende Entscheidung Macky Salls aus.
Amtsinhaber darf nicht mehr antreten
Offenbar gab es jedoch weitere Gründe. Parteiinterne Einschätzungen kamen im Vorfeld der Wahlen zu dem Schluss, dass der vom Präsidenten designierte Kandidat der Regierungskoalition Amadou Ba, amtierender Premierminister, nicht zu dem erhofften Wahlsieg führen würde. Ba war als Kandidat schon bei seiner Nominierung umstritten, mehrere andere Parteigrößen hegen Hoffnung auf dieses Amt.
Der bisherige Präsident Macky Sall darf selbst nicht mehr als Kandidat antreten. Das verbietet die Verfassung, und er selbst hat sich dem gebeugt. Er blickt auf eine zwölfjährige Regierungszeit zurück, konnte viele Erfolge für sich verbuchen und war bislang international geschätzt. Das Land führte er durch die Covid-Krise, stand der Afrikanischen Union vor. Auch hatte er viele wichtige Infrastrukturprojekte vorangebracht.
Überschattet wurde diese lange Zeit der relativen Ruhe durch verschiedene Korruptionsskandale, Klientelismus und drastische Auseinandersetzungen mit der Opposition, die in 2021 und 2023 zu Unruhen rund um den Politiker Ousmane Sonko geführt hatten. Insbesondere die Jugend und Teile der Zivilgesellschaft vermuteten ein bewusstes Ausmanövrieren seitens der Regierung.
Sonko war in verschiedene juristische Prozesse verwickelt. Urteile sind nach geltendem senegalesischen Recht gefällt worden, wurden aber von Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert. Die Unruhen führten zu tagelangem Stillstand, haben rund 40 Menschen das Leben gekostet, führten in einigen Städten zur Zerstörung von Schulen.
Entscheidungen von und für die Eliten
In Dakar waren Teile der Universität betroffen. Auch auf Serviceeinrichtungen des Staates gab es Angriffe sowie auf Privathäuser von Regierungsmitgliedern. Bis heute ist unklar, wie diese Ausschreitungen derart ausufern konnten. Die politischen Bündnisse beschuldigten sich gegenseitig. Sogar von Infiltrierung unbekannter Kräfte als Trittbrettfahrer war die Rede.
Die Eskalation wirkte wie ein Ergebnis jahrelang angestauter Frustration. Der Staat sieht sich einer wachsenden jungen Bevölkerung ohne Zukunftschancen und ohne Einkünfte gegenüber, die sich gegen zu viel Druck von allen Seiten auflehnt. Traditionelle Wertemodelle und Unterordnung passen nicht mehr zur modernen Welt, wie junge Menschen sie auf ihren Smartphones sehen. Zugleich gibt es eine große Erwartungshaltung bezüglich allumfassender Versorgung durch den Staat. Es ist eine Auseinandersetzung um Rollen und Verantwortung. Entscheidungen im Senegal werden von und für Eliten getroffen und nicht unbedingt bedarfsgerecht für alle Bevölkerungsgruppen.
Die Jugend vergessen
Viele Senegalesen sind von der Regierungszeit Salls enttäuscht. Der Pressefreiheitsindex ging zurück. In Gefängnissen stecken zahlreiche politische Gegner, wobei sich die Regierung gegen diesen Vorwurf wehrt. Die gegenwärtigen Krisen drücken auf die Kaufkraft. Die Lebensmittelsicherheit ist immer noch ein großes Thema. Der Bildungssektor ist marode. Der Justiz wird nicht mehr vertraut. Auch vorhandene Ressourcen wie Erdöl und Gas haben das Land bislang im Energiesektor nicht vorangebracht.
Für eine Industrialisierung fehlt die Basis wie Rechtssicherheit, Investoren und eigene Fachkompetenz – sowie die notwendigen Strukturen, um all das aufzubauen. Viele Prioritäten seien nicht gesetzt worden, sondern man habe zu sehr an Prestigeprojekten festgehalten, ist ein häufig gehörter Vorwurf. Sall habe seine Wahlversprechen von 2012 nach mehr sozialer Gerechtigkeit nicht eingehalten, wolle mit einem ihm genehmen Nachfolger indirekt an der Macht bleiben und habe vor allem der politischen Elite Reichtum ermöglicht, die Bevölkerung und vor allem die Jugend aber vergessen.
Fürsprecher der Jugend in Haft
Genau dieses Narrativ bedienen seit Langem Ousmane Sonko und seine Mitstreiter. Sie hatten Ende 2021 das Oppositionsbündnis "Yewwi Askan Wi" gegründet, an dem sich mehrere Parteien beteiligten. Das Bündnis gewann anlässlich der Kommunal- und Parlamentswahlen im Sommer 2022 an Einfluss, wenn auch nicht die absolute Mehrheit.
Sonko selbst konnte bei der jetzt abgesagten Präsidentschaftswahl nicht antreten, denn er ist rechtskräftig verurteilt und befindet sich in Haft. Seine eigene Partei "Pastef les Patriotes" wurde verboten und aufgelöst. Die staatliche Begründung: Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Teilweise martialische verbale Angriffe auf die Regierung wie der Aufruf zum "letzten Kampf" wurden als Belege angeführt.
Somit haben insbesondere jüngere Wählergruppen einen politischen Fürsprecher verloren. Mehrere Führungsmitglieder der Partei müssen sich ebenfalls juristisch verantworten. Dennoch ist die Bewegung zumindest in den Köpfen der Wählerinnen und Wähler vorhanden. Sonko stellte als unabhängigen Ersatzkandidaten seinen ehemaligen Generalsekretär Bassirou Diomaye Faye auf, der zwar auch in Haft sitzt wegen ähnlicher Vorwürfe, aber noch nicht verurteilt ist. Seine Kandidatur wurde zugelassen. Die Jugend zollt ihm viel Bewunderung.
Opposition differenziert sich aus
Andere Parteien sind hingegen seit dem Verbot Pastefs aus dem Oppositionsbündnis ausgetreten und stellten jeweils eigene Kandidaten. Zwar differenzierte sich damit das Lager der Opposition und einzelne Persönlichkeiten traten wieder mehr in den Vordergrund. Dies alles ist jetzt hinfällig. Die Wähler waren tatsächlich gespannt auf den Wahlkampf. Vor allem die Jugend setzte auf ihren Kandidaten Bassirou Diomaye Faye.
Die Vielzahl an Kandidaturen zeigte vor allem, wie stark die politische Landschaft gespalten ist, dass Allianzen und Bündnisse volatil sind, sobald die Aussicht auf die Durchsetzung der eigenen Interessen schwindet. Es zeigte auch das Maß an Selbstüberschätzung des einen oder anderen Kandidaten sowie das tiefe Misstrauen in die Anerkennung von Entscheidungen staatlicher Institutionen.
Ausweg möglich
Das Dekret Macky Salls, die Wahl wenige Stunden vor Kampagnenbeginn zu annullieren, markiert einen Höhe- und Wendepunkt in seiner präsidialen Allmacht: Die Verfassung wurde von ihrem Hüter ausgehöhlt, wie die senegalesische Zeitung "Le Quotidien" am Montag titulierte. Er hat damit sich selbst und dem Ruf, dass Senegal ein demokratisches Land ist, maßgeblich geschadet. Die Begründung, die bestehenden Zweifel ausräumen zu wollen, kauft ihm die Bevölkerung nicht wirklich ab. Es ist eine innenpolitische Krise auf höchstem Niveau und auf Kosten der Wähler. Dennoch besteht eine reelle Chance, dass Senegal selbst aus dieser Krise herausfindet.
Der neue Wahltermin wurde vom Parlament auf den 15. Dezember 2024 festgelegt. Dieses Datum bestimmt jetzt die zweite Vorbereitungszeit. Das gesamte Verfahren muss wiederholt werden. Macky Sall hat zu einem nationalen Dialog eingeladen, um alle Argumente auf den Tisch bringen und die Bedingungen für einen friedlichen und neuen Wahlprozess neu zu verhandeln.
Die Bevölkerung wünscht sich vor allem eine verlässliche Regierung, die sich für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzt. Sie wünscht sich vertrauenswürdige Institutionen und sie wünscht sich, dass ihre Wahlentscheidungen respektiert werden.
Europa sieht genau hin
Europa hat das Land im äußersten Westens Afrikas jetzt ganz besonders auf dem Schirm. Die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft zeigen Überraschung und Verunsicherung. Senegal galt bislang als einer der wenigen verbliebenen Stabilitätsanker in der Region, nachdem sich unter anderem in Mali, Niger und Burkina Faso Militärmachthaber ins Amt geputscht haben – und in ihren Ländern der russische Einfluss, beispielsweise durch die Präsenz von Wagner-Söldnern, immer weiter wächst. Dazu haben diese Länder angekündigt, die westafrikanische Staatengemeinschaft Ecowas zu verlassen, mit allen negativen Auswirkungen für Europa und den Westen.
Dass man um die strategische Bedeutung eines stabilen Senegals weiß, zeigt unter anderem die Tatsache, dass eine der ersten Reisen von Bundeskanzler Olaf Scholz auch nach Dakar führte. Ob in Sicherheitsfragen oder beim Gelingen der Energiewende – Deutschland und Europa sollten, ganz unabhängig von der derzeitigen Krise und vom Wahlausgang im Dezember, Senegal die Chance geben, sich als wichtiger Partner in der Region zu bewähren und seine Interessen klar zu formulieren.
Senegal muss jetzt alles tun, um den Vertrauensverlust wieder zu kitten: das Bekennen zu demokratischem Handeln.
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.