"Beispiellose Geheimdiensttaktik" So gelang den Hamas-Terroristen der große Schlag
Wenige Tage nach dem großangelegten Angriff auf Israel durch die Hamas kommen neue Details ans Licht: Wie konnte den Terroristen dieser große Schlag gelingen?
Das israelische Militär war nach einem Bericht des "Wall Street Journal" nicht auf einen Angriff mit eher einfachen Mitteln vorbereitet. Dass der etwa sechs Meter hohe Grenzzaun vom Gazastreifen aus mit Bulldozern niedergewalzt werden konnte und Kämpfer der Palästinenserorganisation Hamas am Wochenende so ins Land gelangten, habe Israel unvorbereitet getroffen, schrieb die US-Zeitung am Montag (Ortszeit).
Das israelische Militär habe sich in der jüngeren Vergangenheit eher auf Cyber-Fähigkeiten, das Sammeln von Geheimdienstmaterial sowie fortschrittliche Waffensysteme und die Abwehr von Terrorattacken fokussiert.
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Zudem habe das Militär in jüngerer Zeit seine Aufmerksamkeit eher auf das von Israel besetzte Westjordanland gelenkt, um dort einen palästinensischen Aufstand zu unterdrücken, schreibt die Zeitung weiter. Noch im Juni seien dort israelischen Medienberichten zufolge Truppen aufgestockt worden.
Rückblickend wirke die aufgeflammte Gewalt im Westjordanland wie ein kalkulierter Akt, um die Aufmerksamkeit von den Vorbereitungen im Gazastreifen abzulenken, sagte Mark Dubowitz von der US-Denkfabrik Foundation for Defense of Democracies der Zeitung.
Seit 2015 Militär umgebaut und Kampftruppen reduziert
Israels Militär habe sich auf "den falschen Krieg vorbereitet", zitierte das "Wall Street Journal" Avi Jager, einen Wissenschaftler am International Institute for Counter-Terrorism in Israel. Er verwies demnach darauf, dass das Militär 2015 mit einem Umbau begonnen, mehr Gewicht auf Technologie gelegt und dabei Kampftruppen reduziert habe.
"Wir sprechen über einen langjährigen Prozess, in dem die Bodentruppen des israelischen Militärs geschwächt wurden", sagte Kobi Michael vom Institute for National Security Studies in Tel Aviv der Zeitung.
Warnungen israelischer Geheimdienste vor einem potenziellen Krieg hätten sich zudem auf den Norden und die Bedrohung der Hisbollah, dem ebenfalls vom Iran unterstützten Hamas-Verbündeten im Libanon, konzentriert, schrieb die Zeitung ferner unter Berufung auf Militäranalysten.
Sorgfältige Täuschung
Auch die Nachrichtenagentur Reuters veröffentlichte am Montag neue pikante Details zur Planung des Großangriffs der Terroristen auf Israel. Mithilfe einer sorgfältigen Täuschung sei es den Hamas-Kämpfern gelungen, mit Bulldozern, Motorrädern und sogar Drachenfliegern die Grenze des Gazastreifens zu Israel zu überwinden und die stärkste Armee des Nahen Ostens herauszufordern – mit verheerenden Folgen für beide Seiten.
Zwei Jahre lang arbeitete die Hamas laut Reuters im Geheimen ihre Pläne aus und erweckte zugleich bei Israel den Eindruck, dass sie keinen Kampf anstrebe. Während Israel im Glauben gelassen worden sei, die Hamas sei kampfesmüde und könne durch wirtschaftliche Anreize für Arbeiter aus dem Gazastreifen weiter an Bedeutung einbüßen, seien Kämpfer ausgebildet und trainiert worden, sagte ein der Hamas nahestehender Insider der Nachrichtenagentur. Oft sei dies vor aller Augen geschehen.
"Die Hamas vermittelte Israel den Eindruck, sie sei nicht kampfbereit"
Der Insider nannte Reuters zahlreiche Details über den Großangriff der Hamas. Drei weitere Insider aus dem israelischen Sicherheitsapparat, die ebenfalls nicht namentlich genannt werden wollten, lieferten der Nachrichtenagentur weitere Informationen über den schwersten Angriff auf Israel seit 50 Jahren – seit Beginn des Jom-Kippur-Krieges, in dem Ägypten und Syrien 1973 überraschend Israel angriffen.
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"Die Hamas vermittelte Israel den Eindruck, sie sei nicht kampfbereit", sagte der Insider, der der terroristischen Palästinenser-Organisation nahesteht. "Die Hamas nutzte in den vergangenen Monaten eine beispiellose Geheimdiensttaktik, um Israel in die Irre zu führen. Öffentlich erweckte sie den Eindruck, sie sei nicht bereit, sich auf einen Kampf oder eine Konfrontation mit Israel einzulassen. Währenddessen bereitete sie diesen massiven Einsatz vor."
"Das ist unser 11. September"
Israel räumte derweil ein, von dem Hamas-Angriff überrascht worden zu sein, der mit einem jüdischen Feiertag zusammenfiel. Hamas-Kämpfer stürmten in israelische Ortschaften, töteten rund 700 Menschen, verschleppten Dutzende Israelis und Ausländer. Seither hat das israelische Militär in Vergeltungsangriffen rund 500 Menschen im Gazastreifen getötet.
"Das ist unser 11. September", sagte Nir Dinar, der Sprecher der israelischen Streitkräfte, mit Blick auf die Anschläge in den USA 2001. "Sie haben uns erwischt. Sie haben uns überrascht und sind schnell von vielen Orten gekommen – aus der Luft, auf dem Boden und vom Meer."
Zum Auffälligsten bei den Vorbereitungen gehöre der Nachbau einer israelischen Siedlung im Gazastreifen, in der die Hamas eine militärische Landung und die Erstürmung einer Siedlung geübt habe, sagte der Insider mit Kontakten zur Hamas. "Die Israelis haben sie sicherlich gesehen, aber sie waren überzeugt, dass die Hamas nicht in eine Konfrontation geraten wollte." Zugleich bemühte sich die Hamas demnach, Israel zu überzeugen, dass es ihr wichtiger sei, dass Palästinenser Arbeit und Zugang zu Jobs jenseits der Grenze bekämen.
"Wir haben uns geirrt"
Seit dem Krieg mit der Hamas 2021 hat Israel versucht, eine gewisse wirtschaftliche Stabilität im Gazastreifen zu schaffen, in jenem schmalen Landstrich am Mittelmeer, in dem dicht gedrängt zwei Millionen Menschen leben. Israel erteilte Tausende von Genehmigungen, damit dessen Einwohner in Israel oder im Westjordanland arbeiten können. Dort sind die Gehälter im Baugewerbe, in der Landwirtschaft oder im Dienstleistungssektor oft zehnmal so hoch wie im Gazastreifen.
"Wir haben geglaubt, dass die Tatsache, dass sie zur Arbeit kamen und Geld nach Gaza brachten, ein gewisses Maß an Ruhe schaffen würde", sagte ein Vertreter der israelischen Armee. "Wir haben uns geirrt." Ein Insider aus dem israelischen Sicherheitsapparat räumte die gelungene Täuschung seitens der Hamas ein: "Sie ließen uns glauben, sie wollten Geld", sagte er. "Und die ganze Zeit waren sie in Übungen verwickelt, bis es außer Kontrolle geriet."
Hamas verzichtete zwei Jahre auf Angriffe
In den vergangenen zwei Jahren verzichtete die Hamas auf Angriffe auf Israel. Selbst als der Islamische Dschihad im Gazastreifen mit Raketen israelische Ziele attackierte, hielt die Hamas sich zurück. Nun sieht es so aus, als sei auch das Teil der Täuschung gewesen. Seinerzeit habe die Zurückhaltung der Hamas teils öffentliche Kritik bei einigen Anhängern ausgelöst, sagt ein Insider.
So gab es im Westjordanland, das von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und seiner Fatah kontrolliert wird, einige, die sich über das Stillhalten der im Gazastreifen herrschenden Hamas lustig machten. Im Juni 2022 beschuldigte die Fatah die Hamas-Führer, in arabische Hauptstädte geflohen zu sein, um in "luxuriösen Hotels und Villen" zu leben und ihr Volk der Armut zu überlassen.
Ein israelischer Insider sagte, es habe eine Zeit gegeben, in der Israel geglaubt habe, der Anführer der Bewegung, Jahja Al-Sinwar, sei mit der Verwaltung des Gazastreifens beschäftigt, "und nicht mit der Tötung von Juden". Zugleich richtete Israel seinen Fokus weg von der Hamas und hin zu einem Abkommen mit Saudi-Arabien, das die Beziehungen normalisieren soll.
Angriff in vier Teilen
Israel rühmt sich seit langem der Fähigkeit, islamistische Gruppen zu infiltrieren. Daher sei es ein entscheidender Teil des Plans gewesen, Lecks zu vermeiden, sagte der der Hamas nahestehende Insider. So seien sich viele Hamas-Anführer der genauen Pläne nicht bewusst gewesen. Und die 1.000 bei dem Angriff eingesetzten Kämpfer hätten während des Trainings keine Ahnung gehabt von deren konkretem Zweck. Als der Tag des Angriffs gekommen sei, habe man diesen in vier Teile gegliedert.
Der erste Schritt war demnach der Abschuss von 3.000 Raketen aus Gaza. Damit zusammen fiel das Überqueren der Grenze mithilfe von Drachenfliegern und motorisierten Gleitschirmen. Sobald die Hamas-Kämpfer gelandet waren, sicherten sie das Gelände. Nun konnte eine Eliteeinheit die Mauer stürmen, die Israel errichtet hatte, um eine Infiltration zu verhindern.
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Die Kämpfer durchbrachen die Absperrungen mithilfe von Sprengstoff und rasten dann mit Motorrädern hinüber. Bulldozer vergrößerten die Lücken, und mehr Kämpfer drangen vor. Augenzeugen haben solche Szenen beschrieben. Eine Kommandoeinheit griff das Hauptquartier der israelischen Armee im Süden am Gazastreifen an und störte dessen Kommunikation. So wurden die Soldaten gehindert, ihre Kommandeure oder einander anzurufen. Den letzten Teil schildert der Insider als die Geiselnahme und das Verschleppen der Menschen in den Gazastreifen. Das sei größtenteils zu Beginn des Angriffs geschehen.
"Großes Versagen des Geheimdienstes"
Ein Insider der israelischen Sicherheitskräfte sagte, die eigenen Truppen im Süden hätten nicht ihre volle Stärke aufgewiesen. Einige Soldaten seien abkommandiert worden, um Siedler im Westjordanland zu schützen. Die Hamas habe das ausgenutzt. Jaakow Amidror, ein früherer General des israelischen Militärs und einstiger nationaler Sicherheitsberater von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, sprach von einem "großen Versagen des Geheimdienstes und des Militärs im Süden".
Einige Verbündete Israels hätten gesagt, dass die Hamas mehr Verantwortung übernommen habe. "Wir haben dummerweise begonnen zu glauben, dass es wahr ist", sagte Amidror. "Wir haben also einen Fehler gemacht. Wir werden diesen Fehler nicht noch einmal machen, und wir werden die Hamas langsam aber sicher zerstören."
- Nachrichtenagenturen Reuters und dpa