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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Leichtathletik-WM in Budapest Brot und Spiele für Ungarn
Am Sonntag endet die Leichtathletik-WM in Budapest. Wenn es nach Regierungschef Viktor Orbán geht, sollen bald die Olympischen Spiele in Ungarn stattfinden. Denn Spitzensport hat für ihn eine politische Bedeutung.
Aus Budapest berichtet Melanie Muschong
Aus Berlin berichtet Tom Schmidtgen
Als der ungarische Hammerwerfer Bence Halász am Sonntag bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Budapest mit seinem ersten Wurf die 80-Meter-Marke knackte, war das ganze Stadion elektrisiert. Als er dann im dritten Versuch glaubte, seine persönliche Bestleistung mit 81,02 Metern verbessert zu haben, rannte Halász über die Bahn zu seinem Trainer. So sehr freute er sich. Der Trainer klopfte Halász auf die Schulter. Allerdings war der Versuch ungültig. Die 80,82 Meter von zuvor reichten jedoch für Bronze.
Das Besondere: Der Hammerwerfer ist der erste ungarische Medaillengewinner – und bisher auch der Einzige. Nach seinem Bronzemedaillen-Erfolg berief der Sportverband World Athletics eigens für den Ungarn eine Pressekonferenz ein – noch vor der Konferenz für den 100-Meter-Sieger Noah Lyles. Die anwesenden Journalisten applaudierten und stellten minutenlang Fragen auf Ungarisch. Halász wurde umjubelt, als hätte er Gold gewonnen.
Budapest soll "Gastgeberstadt für Weltereignisse" werden
Einer dürfte sich besonders über den Erfolg gefreut haben: der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, im Amt seit 2010. Noch vor Beginn der Spiele sagt er in seinem freitäglichen Radiointerview: "Heute ist Budapest eine nationale Hauptstadt, in die man unbedingt kommen muss. Die Menschen haben zu Recht das Gefühl, dass sie etwas verpassen, wenn sie nicht hierherkommen." Budapest solle die "Gastgeberstadt für Weltereignisse" werden.
Immer öfter möchte Orbán Sport-Großereignisse in das mitteleuropäische Land locken. Zwei Schwimm-Weltmeisterschaften fanden in Budapest statt – erst im Mai das Finale der Uefa Europa League, nun die Leichtathletik-WM. Eine Olympia-Bewerbung für 2024 scheiterte noch am Widerspruch der Bevölkerung. Aber offenbar plant Orbán eine neue Bewerbung für die Olympischen Spiele 2036, dem Jahr, für das auch Berlin laut über eine Bewerbung nachdenkt.
Orbán nutzen die Sportveranstaltungen politisch. Er könne sich im Rampenlicht der Welt zeigen, sein Land von einer positiven Seite präsentieren, erklärt die Politikwissenschaftlerin Ellen Bos von der Andrássy Universität Budapest im Gespräch mit t-online. "Ungarn hat vor allem in Westeuropa ein sehr schlechtes Image aufgrund der negativen Demokratieentwicklung und der speziellen Position innerhalb der EU zu Russland", so Bos.
Einladung an "politische Freunde" zum Unabhängigkeitstag
Die EU zahlt Ungarn wegen des anhaltenden Streits um Demokratie und Rechtsstaat viel Geld vorerst nicht aus. Ungarn wiederum erschwert immer wieder den Beschluss von Sanktionen gegen Russland, die Ukraine nannte Orbán "kein souveränes Land mehr".
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Der Regierungschef nutzt den sportlichen Anlass für politische Gespräche – ausgerechnet am symbolträchtigen Unabhängigkeitstag Ungarns vergangenen Sonntag. Am 20. August erinnern die Ungarn an König Stephan, der das Land vor knapp 1.000 Jahren christianisierte und dessen Krone noch heute im Wappen zu finden ist.
Orbán empfing an diesem Tag zahlreiche Staatsgäste in seinem Amtssitz, dem Karmeliterkloster auf dem Burgberg, hoch über der Stadt. Im Vorfeld betonte Orbán, zum Unabhängigkeitstag nur "politische Freunde" einzuladen.
Unter den Gästen war kein einziger amtierender Politiker aus der EU. Es kamen stattdessen: Sebastian Kurz, ehemaliger österreichischer Kanzler, gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić, und Staats- und Regierungschefs aus Zentralasien. "Das zeigt die Isolation Orbáns in der EU und im Westen", sagt Zsuzsanna Szelényi t-online, früheres Gründungsmitglied von Orbáns Fidesz-Partei, die später für die Opposition im Parlament saß.
Leichtathletik-WM soll wirtschaftlichen Erfolg bringen
Vielmehr geht es Orbán um die Energieversorgung des Landes. Bisher bezieht Ungarn noch 80 Prozent seines Gases aus Russland, das will der Machthaber ändern. Vor allem aus dem zentralasiatischen Turkmenistan will Orbán mehr Gas beziehen. Der Präsident Serdar Berdimuhamedow war auch in Budapest. Beide sprachen über eine langfristige Gas-Kooperation, genaue Verträge sind nicht öffentlich geworden. "Das ist konträr zur Politik der EU, die versucht, Abhängigkeiten von Gas zu reduzieren und mehr auf erneuerbare Energien zu setzen", sagt Politikwissenschaftlerin Bos.
Orbán erhofft sich von seinen Spielen nicht nur außenpolitisches Renommee, sondern auch wirtschaftlichen Aufschwung. So kündigte er im Vorfeld auch ein neues Wirtschaftswachstum mit der Leichtathletik-WM an. Die ökonomische Lage des Landes ist schlecht: Ungarn hat die höchste Inflationsrate der EU mit aktuell 17,5 Prozent. Dazu kommt eine Rezession.
Hört man sich in den Straßen Budapests um, sind viele Ungarn zufrieden mit der WM. "Wie ich gehört habe, ist dies das größte Sportereignis in diesem Jahr und es findet in Budapest statt", sagt Passantin Csaba Udvarhelyi. "Wir wollen ein guter und netter Gastgeber sein. Es ist gut, dass Orbán die WM hierhergebracht hat." Péter Kapitány freut sich ebenfalls, dass die Leichtathletik-WM dieses Jahr in Ungarn ist. "So viele Menschen kommen nach Budapest und nach Ungarn. Ich denke, das ist sehr gut", sagt er.
Olympia als persönliches Vermächtnis von Orbán
Dabei wird Orbán das Sportereignis nicht allzu viel bringen. "Insgesamt sind solche Sportereignisse volkswirtschaftlich ein Nullsummenspiel", sagt Alexander Himme, Professor für Controlling an der Hamburger Privatuniversität KLU, im Gespräch mit t-online. Zwar kämen mit den Sportveranstaltungen auch mehr Touristen in die Stadt, aber Budapest sei ohnehin eine sehr touristische Stadt. Dem gegenüber stehen hohe Ausgaben für die Sportveranstaltung. Allein der Bau des neuen Stadions kostete umgerechnet fast 700 Millionen Euro.
Für die Bevölkerung sei die WM "Brot und Spiele", sagt die ehemalige Oppositionspolitikerin Szelényi. "Die Regierung muss eine Show veranstalten wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage", erklärt die Expertin für ungarische Politik, die auch ein Buch über Orbán geschrieben hat.
"Nicht ein Piep"
"Orbán wird langfristig denken und Olympia als sein persönliches Vermächtnis für Ungarn sehen", so Ökonom Himme. Olympische Spiele brächten oft einen Image-Boost. Himme geht davon aus, dass Ungarn mit den vielen kleineren Sportevents sein Organisationstalent beweisen will, um für die Olympia-Bewerbung zu punkten.
Wie viel die WM wirklich bringt, ist fraglich. Die Orbán-nahe Zeitung "Ungarn heute" zeigt sich in einem Kommentar ernüchtert über die ausländischen Reaktionen auf das Sportereignis. "Man war schon ein bisschen erwartungsvoll und stolz, dass, wenn man sich die Titelseiten der größten und bekanntesten internationalen Zeitungen anschaut, Journalisten überall auf der Welt endlich die Möglichkeit haben würden, Ungarn in einem positiven Licht darzustellen", schreibt der Kommentator. All die Anstrengungen der Ungarn für die Ausrichtung des Sportevents müssten doch geschätzt werden. "Scheinbar nicht. Nicht ein Piep."
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Ellen Bos
- Gespräch mit Zsuzsanna Szelényi
- Gespräch mit Alexander Himme
- ec.europa.eu: "Juli 2023: Jährliche Inflationsrate im Euroraum auf 5,3% gesunken"
- ungarnheute.de: "'Wir brauchen Soldaten, keine Arbeiter in Uniform', sagt Viktor Orbán"
- ungarnheute.de: "Weltmeisterschaften? Welche Weltmeisterschaften?"