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Proteste in Israel: "Die Gesellschaft ist dabei, sich zu zerlegen"


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Unruhen in Israel
"Netanjahu könnte tatsächlich im Gefängnis landen"

  • David Schafbuch
InterviewVon David Schafbuch

25.07.2023Lesedauer: 4 Min.
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Demonstranten in Tel Aviv: Gegen die Justizreform der Regierung gibt es seit Monaten Proteste. (Quelle: Matan Golan/imago-images-bilder)

Ein neues Gesetz soll in Israel die Kompetenzen des obersten Gerichts einschränken. Experte Richard C. Schneider sieht das Land vor großen Herausforderungen.

Während es im Parlament in Jerusalem Jubel aufseiten der Regierung gab, waren die Tausenden Demonstranten entsetzt: Am Montag hat das israelische Parlament einen Teil der umstrittenen Justizreform der Regierung verabschiedet. Im Kern sieht das Gesetz vor, dass das Oberste Gericht des Landes nicht mehr in der Lage ist, Entscheidungen der Regierung zu kippen.

Kritiker bemängeln, dass durch das Gesetz die Gewaltenteilung in Israel aufgehoben und die Demokratie beschädigt wird. Auch für Richard C. Schneider steht das Land jetzt vor einer entscheidenden Phase. Der Buchautor, Journalist und langjährige ARD-Studioleiter in Tel Aviv spricht im Interview mit t-online über die Risiken der geplanten Reform, wie die Sicherheitslage in Israel durch die neuen Gesetze gefährdet wird und welche Rolle der Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dabei spielt.

t-online: Herr Schneider, Sie haben in Israel schon einige schwierige Zeiten erlebt. Wie schwer ist die aktuelle Verfassungskrise im Vergleich zu früheren?

Richard C. Schneider: Israel erlebt möglicherweise die größte Krise seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Damals wurde das Land überraschend aus Syrien und Ägypten angegriffen und erlitt hohe Verluste, ehe sich das Blatt wendete.

Die jetzige Bedrohung kommt allerdings nicht von außen, sondern von innen.

Die Gesellschaft ist dabei, sich zu zerlegen. Die Spaltung ist massiv. Es geht um die sehr existenzielle Frage: Was für ein Land will Israel sein? Will es eine Demokratie sein oder bewegt es sich hin zu einem Staat, der möglicherweise autoritär wird?

Wird diese Justizreform das Ende der Demokratie in Israel einläuten?

Noch nicht. Bisher ist nur ein Gesetz dieser gesamten Reform verabschiedet worden. Beim Obersten Gericht wurden auch bereits Petitionen dagegen eingereicht. Dort wird man jetzt entscheiden müssen, ob die Regelung verfassungswidrig ist. Wenn das Oberste Gericht so entscheidet, müsste die Regierung das akzeptieren. Aber ob sie das tatsächlich tun wird, weiß niemand.

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Richard C. Schneider (Quelle: Uwe Steinert/imago-images-bilder)

Zur Person

Richard C. Schneider, (66), hat sich viele Jahre seines beruflichen Lebens mit Israel befasst. Ab 1987 arbeitete er für die ARD. Zwischen 2005 und 2015 berichtete er aus Tel Aviv, neun Jahre davon als Studioleiter. Für seine Arbeit wurde er unter anderem mit dem Grimme-Preis und zweimal mit dem bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Seit 2021 schreibt er regelmäßig für den "Spiegel". Darüber hinaus hat er mehrere Bücher über das Land verfasst: Im April erschien sein jüngstes Werk "Die Sache Israel: Fünf Fragen zu einem komplizierten Land".

Die Entscheidung ist heikel. Denn das Gericht entscheidet über ein Gesetz, das seine eigenen Kompetenzen einschränken soll.

Es ist auch deshalb ein Novum, weil das Gericht über ein Grundgesetz entscheidet. Das Land hat keine Verfassung, sondern viele Grundgesetze, die lediglich einen verfassungsähnlichen Charakter haben. Eine solche Regelung kann unter zwei Bedingungen gekippt werden: Wenn es nämlich nicht demokratisch oder nicht jüdisch ist. So etwas gab es in Israel noch nie.

Die Kritik an der Reform ist seit Monaten massiv, und sie richtet sich vor allem gegen den Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Gegen ihn laufen drei Korruptionsprozesse. Es wird häufig behauptet, er könnte durch die neuen Regeln einer eigenen Verurteilung entgehen. Baut er die Justiz vor allem aus persönlichen Interessen um?

Viele glauben, dass das tatsächlich seine Hauptmotivation ist. Bei seinen Koalitionspartnern, den Parteien der Ultraorthodoxen und Siedler, kommen noch ideologische Aspekte hinzu. Diese teilt Netanjahu nicht unbedingt. Aber die Zielrichtung ist die gleiche, nämlich eine Veränderung des liberal-demokratischen Staates hin zu einer anderen Form von Israel.

Diese zum Teil rechtsextremen Koalitionspartner sollen Netanjahu auch gedroht haben, ohne die Reform die Regierung platzen zu lassen. Wären dann nicht Neuwahlen die bessere Lösung angesichts der massiven Proteste?

Für Netanjahu ist das keine Lösung. Würde es heute Neuwahlen geben, würde die jetzige Koalition haushoch verlieren. Das wäre sein politisches Ende. Er hätte dann auch die Prozesse, die gegen ihn laufen, nicht mehr in der Hand. Ob er verurteilt wird, ist eine ganz andere Frage. Aber er könnte tatsächlich im Gefängnis landen.

Das Gesetz hat auch Auswirkungen auf das Militär: Mehr als zehntausend Reservisten haben angekündigt, ihren Dienst zu verweigern. Ist das für Israel nicht die eigentliche Gefahr?

Das ist mit Sicherheit die gefährlichste Konsequenz. Aber es kann auch der alles entscheidende Hebel sein, um diese Justizreform noch zu stoppen. Ohne die Reservisten nimmt die Wehrfähigkeit des Staates rapide ab. Das wissen alle.

Das kann doch angesichts der ohnehin immer angespannten Lage in der Region niemand wollen.

Ich kann mir vorstellen, dass Netanjahu pokert. Er glaubt möglicherweise, dass die Reservisten bei einer existenziellen Bedrohung doch ihren Dienst antreten werden. Aber auch das ist gefährlich: Dann haben die Soldaten wochen- oder vielleicht monatelang nicht mehr vernünftig trainiert. Vieles könnte dann nicht mehr funktionieren.

Und die Regierung ignoriert diesen Umstand?

Ideologische Überzeugung ist häufig stärker als Vernunft. Das ist überall so. Die Partei der Siedler, die zwei Minister stellt, will natürlich auch noch etwas anderes vorantreiben: Sie will das Westjordanland annektieren. Sie müssen die Kompetenzen der Justiz zuerst beschneiden, um dieses Ziel durchzusetzen. Die Ultraorthodoxen in der Regierung sind vom Militärdienst sowieso befreit. Die verlassen sich salopp gesagt auf Gott und hoffen nur darauf, genug Geld zu erhalten. Denn viele der Männer gehen auch nicht arbeiten. Anders formuliert: Diese Regierung hat im Moment eine Mehrheit. Aber einen Großteil der Gesellschaft repräsentiert sie nicht.

Nehmen die Gegner Israels in der Region nicht auch wahr, dass das Land militärisch möglicherweise geschwächt ist?

Natürlich schauen Gruppen wie die Hisbollah genau hin, was gerade los ist. Auch im Iran wurde sich bereits zur Schwäche Israels geäußert. Ich glaube im Moment nicht, dass es einen großen Krieg geben wird. Aber wenn Israel Schwäche zeigt, weiß man, dass es in irgendeiner Form zu einem Angriff kommt.

Der Gegenwind aus dem Militär ist massiv. Aber es gibt auch andere Gruppen, die den Kurs der Regierung nicht mittragen. Was kann das für Auswirkungen haben?

Auch viele Vertreter der Wirtschaft sind dagegen. Die Hightech-Industrie und viele große Konzerne streiken. Es wird nicht mehr in neue Unternehmen investiert. Gestern ist der Kurs des Schekels abgestürzt. Wenn die Menschen diese Krise in ihren Geldbeuteln spüren, gerät die Regierung unter noch größeren Druck.

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Sehen Sie noch einen Ausweg, um eine größere Krise abzuwenden?

Alles steht und fällt mit Netanjahu. Er könnte diese Reform jederzeit stoppen. Es ist aber unklar, ob er die Kraft dazu hat und sich das traut. Aber selbst wenn er das tut, ist die Krise nicht vorbei. Denn die Siedler, die Antidemokraten, die Ultraorthodoxen in dieser Regierung werden keine Ruhe mehr geben. All diese Themen werden Israel noch viele Jahre beschäftigen.

Herr Schneider, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Richard C. Schneider
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