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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rechte Hand im Kreml Putins radikaler Kronprinz
Nikolai Patruschew gehört zu den engsten Vertrauten von Wladimir Putin. Manche glauben, dass er ihm nachfolgen könnte, wenn Putin dies selbst entscheiden dürfte.
Nikolai Patruschew meidet die internationale Bühne. Doch russischen Medien gibt er gerne Interviews – und geizt dort nicht mit steilen Thesen: So würden etwa geflüchtete Ukrainer in europäischen Ländern inzwischen illegale Adoptionen von Waisenkindern aus ihrem Heimatland vermitteln. Das erklärte der Chef des russischen Sicherheitsrates der Amtszeitung "Rossijskaja Gaseta" im April 2022. Außerdem blühe im Westen der Schwarzmarkthandel mit Organen von Ukrainern, die diese sich für Geld entfernen ließen, um sie dann zu verkaufen.
Es sind Beispiele von besonders kruden Verschwörungstheorien, die der 72-Jährige in Interviews abspult – und dabei handelt es sich nur um die Spitze des Eisbergs: Die EU? Steht laut Patruschew kurz vor dem Zusammenbruch. Die USA? Entwickelten in "biologischen Militärlaboratorien" Viren und müssten einen Angriff aus Süd- und Mittelamerika auf ihr Staatsgebiet befürchten. Russland dagegen: eine jahrhundertealte Kultur, gegründet auf "Spiritualität, Mitgefühl und Barmherzigkeit."
"Gift ins Ohr"
Patruschew ist ein Verschwörungsgläubiger mit Einfluss: Offiziell ist er seit 2008 Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates der Russischen Föderation. Das Gremium, in dem wichtige Minister, Geheimdienstleute und andere hochrangige Beamte mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammenkommen, hat auf dem Papier lediglich beratende Funktionen. Doch Patruschew ist weit mehr als nur ein Sicherheitsberater.
"Aus dem Kreis der Sicherheitsorgane steht er Putin sicherlich am nächsten", sagt Fabian Burkhardt vom Regensburger Leibniz-Institut im Gespräch mit t-online. Beobachter gehen davon aus, dass kaum jemand im russischen Machtapparat bessere Kontakte zu Putin hat als der Sekretär des Sicherheitsrates – und dass seine kruden Thesen auch das Weltbild des Präsidenten prägen.
"Wenn ich die Figur aussuchen müsste, die mir in Wladimir Putins innerstem Zirkel am meisten Angst bereitet, wäre das Nikolai Platonowitsch Patruschew", schrieb Mark Galeotti im März im britischen "Spectator." Laut dem Russlandexperten sei Patruschew derjenige, der Putin "Gift ins Ohr" schütte. Wie gefährlich ist der Mann also?
Wie Putin und viele andere Vertraute des Präsidenten wird Patruschew 1951 in Leningrad – dem späteren St. Petersburg – geboren. Sein Vater kämpfte im Zweiten Weltkrieg in der sowjetischen Marine, die Mutter arbeitete während des Krieges gegen Finnland als Krankenschwester und soll später in einem Bauunternehmen angestellt gewesen sein.
Karriere im Geheimdienst
1974 entscheidet Patruschew sich nach Schule und Studium für eine Laufbahn beim KGB. Ein Jahr später tritt auch Putin in den Geheimdienst ein. Patruschew und er sollen sich seit dieser Zeit kennen.
Die Karrierepfade der beiden trennen sich zunächst, ehe sie Ende der Neunziger wieder zusammenfinden. 1999 wird Patruschew Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB. Der Name seines Vorgängers: Wladimir Putin. Silvester 1999 übernimmt er das Amt des Präsidenten von Boris Jelzin. Es ist die Zeit des zweiten Tschetschenienkrieges, den die russische Armee mit äußerster Härte führt. Noch in der Silvesternacht soll Putin mit seiner Frau in einem Hubschrauber über das Kampfgebiet in Tschetschenien geflogen sein, mit an Bord: das Ehepaar Patruschew, die gemeinsam mit Champagner anstoßen.
Mit Beginn der ersten Amtszeit des Präsidenten wurde auch der russische Machtapparat umgebaut. Putin scharte neben Patruschew zahlreiche Geheimdienstler um sich. 2006 soll der FSB-Chef eine Schlüsselrolle beim Tod des russischen Doppelagenten Alexander Litwinenko eingenommen haben, der durch eine Polonium-Vergiftung in London ums Leben kam. Eine Untersuchung kam später zu dem Schluss, dass der Tod wohl Ergebnis einer FSB-Operation war, genehmigt von Patruschew und Putin.
Von den USA gesteuert
International sorgte der Fall für große Entrüstung, dem Aufstieg Patruschews in Russland schadete er nicht: 2008 übernahm er seinen heutigen Posten als Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats. Es war erneut eine Zeit des Umbruchs: Putin übergab das Amt des Präsidenten vorübergehend an Dmitri Medwedew, angeblich sollte zuvor auch Patruschew in der engeren Auswahl gewesen sein.
Experten, die mit dem inneren Kreis des Kremls vertraut sind, gehen davon aus, dass der 72-Jährige auch eine Schlüsselrolle im russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 gespielt hat. Drei Tage vor dem Überfall erläuterte er während einer Sitzung des Sicherheitsrates seine Sicht der Dinge. "Was dort geschieht, ist ein lokaler Konflikt, der von den Vereinigten Staaten inszeniert wird", sagte er am 21. Februar zu der Situation in der Ostukraine. Tatsächlich kämpften dort russische Separatisten gegen die ukrainische Armee. Falls US-Präsident Joe Biden "dieses Blutbad" bald beenden könne, sei Russland wieder gesprächsbereit.
Es gibt unterschiedliche Interpretationen dieses Treffens: Die Journalistin und Kremlkennerin Catherine Belton sagte dem "Spiegel", Patruschew habe damit verklausuliert den russischen Angriff auf die Ukraine umschrieben. Fabian Burkhardt ist dagegen der Meinung, der 72-Jährige habe immerhin noch die Möglichkeit von Gesprächen angesprochen. Dazu kam es in jedem Fall allerdings nicht mehr: Drei Tage später begann Russland mit seiner Invasion.
"Diplomaten versuchen oft zu raten. Sie wissen nicht, was Putin will, aber Patruschew schon", sagt Andrej Kolesnikow vom Carnegie Endowment for International Peace der "Washington Post." Im Gegensatz etwa zu Außenminister Sergej Lawrow sei Patruschew befugt, die Gedanken und Ansichten Putins zu erklären.
Auch Fabian Burkhardt sieht, dass Patruschew an Einfluss gewonnen hat. Das Außenministerium von Sergei Lawrow leide darunter, dass Russland diplomatisch immer stärker isoliert sei: "Lawrow wird spät informiert und führt Dinge aus. Patruschew sitzt am Tisch, wenn es ums Ganze geht." Der Politikwissenschaftler schränkt allerdings ein: Es gebe nicht den einen Vertreter, der Putins Denken und Handeln wiedergebe.
Zuletzt war der Putin-Vertraute auch immer häufiger auf Auslandsreisen – und dabei aus russischer Sicht durchaus erfolgreich. "Bei Lieferungen von Drohnen oder Waffen aus dem Iran hat Patruschew eine entscheidende Rolle gespielt", so Burkhardt.
Die Treue Patruschews gegenüber Putin wirkt von außen auch weiterhin ungebrochen. Viele gehen davon aus, dass er Putins natürlicher Nachfolger wäre, sofern der Präsident dies selbst aussuchen könnte. Doch die Macht des Kremlchefs hat nach dem Putschversuch des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin gelitten.
"Patruschew würde Putin bis zum Letzten stützen", glaubt Burkhardt. Trotzdem sei er als Nachfolger Putins eine unwahrscheinliche Wahl. "Dagegen spricht allein schon, dass er mit 72 Jahren noch etwas älter ist als der russische Präsident." Allerdings hält der Russland-Experte eine andere Lösung für denkbar: Patruschew könnte einen seiner beiden Söhne in Stellung bringen. Sein ältester Sohn Dimitri ist bereits in der Regierung als Landwirtschaftsminister vernetzt, der jüngere Sohn Andrej war unter anderem schon für den Erdölkonzern Gazprom Neft tätig.
- Interview mit Fabian Burkhardt
- spectator.co.uk: "Nikolai Patrushev, the man dripping poison into Putin’s ear" (englisch)
- theconversation.com: "As one of Vladimir Putin’s closest advisers on Ukraine, Nicolai Patrushev spreads disinformation and outlandish conspiracy theories" (englisch)
- rg.ru: "Патрушев: Запад создал империю лжи, предполагающую уничтожение России" (russisch)
- warheroues.ru: "Николай Платонович Патрушев" (russisch)
- webarchive.nationalarchives.gov.uk: "The Litvinenko Inquiry" (englisch)
- welt.de: ""Der Teufel, der auf Putins Schulter sitzt und Gift speit"" (kostenpflichtig)
- kremlin.ru: "Security Council Meeting February 21, 2022" (englisch)
- russiaeu.ru: "Security Council Secretary Nikolai Patrushev’s interview with Rossiyskaya Gazeta (March 27, 2023)" (englisch)
- spiegel.de: ""Die Moskauer Elite spricht über Putins Ablösung"" (kostenpflichtig)
- thetimes.co.uk: "Inside Putin’s bunker: how he kept the plan to invade Ukraine secret" (englisch, kostenpflichtig)
- washingtonpost.com: "The man who has Putin’s ear — and may want his job" (englisch, kostenpflichtig)