Wahlen in der Türkei Es herrscht Panik
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nach der Präsidentschaftswahl in der Türkei deutet alles auf einen großen Schlagabtausch zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu hin. Schon vor Bekanntgabe des Endergebnisses eskaliert der Streit.
Die finale Entscheidung wurde vertagt, trotzdem gab es Jubel auf beiden Seiten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nahm am Sonntag kurz vor Mitternacht im Istanbuler Stadtteil Kisikli bereits ein Bad in der Menschenmenge. Seine Anhänger schwenkten türkische und AKP-Fahnen, skandierten "Erdoğan", viele zückten ihre Handys als der Präsident an ihnen vorbeilief. Der 69-Jährige wirkte erschöpft von einem langen Wahlkampf, er sah müde aus, schüttelte an dem Abend viele Hände. Doch es war noch keine Siegesfeier, denn Erdoğan hat die erste Runde der Präsidentschaftswahl nicht gewonnen.
Bei der Richtungswahl in der Türkei konnten sich weder der Amtsinhaber noch sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der kemalistischen CHP durchsetzen – keiner von beiden kam demnach auf über 50 Prozent der Stimmen. Nun werden beide Kandidaten am 28. Mai in eine Stichwahl gehen müssen – dem entscheidenden Schlagabtausch.
Aber das allein wäre für Erdoğan schon ein Erfolg. Vor dem Urnengang lag er in vielen Umfragen teilweise schon deutlich hinter Kılıçdaroğlu, nun könnte er als Führender in die Stichwahl gehen.
Zweifelsfrei zeigen die Ergebnisse der türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vor allem eines: Die ideologischen Gräben in der türkischen Gesellschaft sind so tief, dass sie nicht einmal im Angesicht einer Wirtschaftskrise und eines schweren Erdbebens überwunden werden können. Es herrscht außerdem Panik, dass es nach Erdoğan noch schlimmer und chaotischer werden könnte. Die Türkei ist so gespalten wie nie.
Das gegenseitige Misstrauen ist groß
Es waren in der Nacht zum Montag noch nicht alle Stimmen ausgezählt, schon überzogen sich Erdoğan und die oppositionelle CHP gegenseitig mit schweren Vorwürfen. "Traut den Zahlen von Anadolu nicht", sagte der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu (CHP) mit Bezug auf die regierungsnahe Nachrichtenagentur. Diese habe "jegliche Seriosität verloren". Auch CHP-Sprecher Faik Öztrak erklärte: "Anadolu betreibt die gewohnte Manipulation."
Zu diesem Zeitpunkt war die CHP optimistisch, zumindest vor Erdoğan ins Ziel zu kommen. "Wir sind vorne", schrieb Kılıçdaroğlu auf Twitter, obwohl keine der öffentlichen Zahlen darauf hindeuteten. Die Anspannung und das gegenseitige Misstrauen im politischen System des Landes sind groß. Auch Erdoğan attackierte die Opposition, beschuldigte sie, die Ergebnisse der Wahl voreilig bekannt geben zu wollen. Der Langzeit-Präsident sprach von einem "Raub des nationalen Willens".
Die Opposition hingegen drängt vor allem deshalb auf die schnelle Bekanntgabe der Ergebnisse, weil sie Wahlbetrug seitens Erdoğans AK-Partei vermutet. Beide politischen Lager forderten ihre Wahlbeobachter auf, in der Nacht in den Wahllokalen auszuharren, bis alle Stimmen ausgezählt und sie an die Wahlbehörde übermittelt wurden.
Noch ist die Stichwahl von der Wahlbehörde nicht bestätigt, offizielle Ergebnisse könnten erst am Montagmorgen veröffentlicht werden oder später. Im Inland seien rund 95 Prozent der Wahlurnen ausgezählt sowie rund 37 Prozent der Urnen im Ausland, sagte der Chef der Wahlkommission, Ahmet Yener, in der Nacht zu Montag in Ankara. Demnach erhielt Erdoğan 49,49 Prozent der Stimmen, Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu 44,79 Prozent.
Erdoğans Ergebnis überrascht
Aus westlicher Perspektive ist das Ergebnis durchaus überraschend. Die Türkei steckt seit Jahren in einer großen Währungs- und Wirtschaftskrise, Armut und Inflation wachsen gleichermaßen und Erdoğan trägt durch seine Niedrigzinspolitik laut vieler Wirtschaftsexperten eine Mitschuld daran. Hinzu kam, dass die türkische Regierung die Hilfe nach dem verheerenden Erdbeben im Februar mit über 50.000 Todesopfern schlecht organisiert hat – der türkische Präsident musste sich entschuldigen.
Trotzdem machten sehr viele Türkinnen und Türken am Sonntag erneut ihre Kreuze bei Erdoğan und der AKP. Das hat viele strukturelle Gründe, hängt aber auch mit dem Kandidaten zusammen. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen lassen daher folgende Rückschlüsse zu:
1. Die Türkei ist tief gespalten
Mit einem unversöhnlichen Politikstil gegenüber den politischen Gegnern hat Erdoğan in seinen 20 Jahren an der Macht die Spaltung in der Türkei vergrößert und die ideologischen Gräben immer weiter vertieft. Es herrscht dadurch ein politisches Klima der gegenseitigen Feindschaft zwischen dem konservativ-nationalistischen Lager der AKP und dem Oppositionsbündnis.
Für viele konservative Türkinnen und Türken ist es ideologisch inzwischen undenkbar geworden, einen anderen Präsidenten als Erdoğan und die AKP zu wählen. Die Situation ist mit der politischen Kultur in den USA vergleichbar. Auch dort wählen viele Menschen immer republikanisch oder demokratisch, unabhängig davon, welchen Kandidaten die Parteien aufstellen.
Die Wahl in der Türkei, die als Richtungswahl galt, die über die künftigen Geschicke des Landes und dessen angeschlagener Wirtschaft entscheidet, hat daher einmal mehr gezeigt, wie verfestigt die politischen Lager sind.
2. Kılıçdaroğlu konnte sein volles Wählerpotential nicht ausschöpfen
Darüber hinaus können Wahlkämpfe in der Türkei nach demokratischen Standards nicht wirklich fair ablaufen. Erdoğan hat die Medien weitestgehend unter Kontrolle gebracht und ist im Vorfeld bereits massiv gegen kritische Berichterstattung vorgegangen. Im Wahlkampf erhalten er und seine AKP im türkischen Fernsehen mehr Sendezeit, seine Partei verfügt allgemein über die größten finanziellen Mittel.
Allerdings ist Erdoğan ein guter Wahlkämpfer. Ihm werden Redegewandtheit und Charisma zugeschrieben und er profitiert trotz aller Krisen noch immer von hohen Beliebtheitswerten.
Auch Kılıçdaroğlu hat im Wahlkampf kaum Fehler gemacht. Allerdings ging er als ein Kandidat ins Rennen, der noch nie eine Wahl gewonnen hatte und der einigen in seinem Wahlbündnis aus sechs Parteien als zu links, zu schwach und zu uncharismatisch galt. Doch Kılıçdaroğlu gelang es mit einer persönlichen Ansprache und mit seinen Videos aus seiner Küche, sich als das Gegenteil von Erdoğan in Szene zu setzen – ruhig, bescheiden, freundlich und als ein Diener des Volkes.
Trotzdem war er scheinbar nicht der Kandidat, der im ersten Wahlgang das Wählerpotential der Opposition bestmöglich ausschöpfen konnte. Die Gründe dafür könnten vielfältig sein: Wahrscheinlich ist Kılıçdaroğlu für konservative und nationalistische Wähler weniger wählbar als zum Beispiel Mansur Yavaş, der CHP-Bürgermeister von Ankara. Es wird auch konservative Musliminnen und Muslime gegeben haben, die Vorbehalte gegenüber Kılıçdaroğlu haben, weil er zur Glaubensrichtung der Aleviten gehört.
3. Die Angst vor dem Chaos
Besonders in der Endphase des Wahlkampfes versuchte die AK-Partei Angst vor dem Wandel zu verbreiten. Es wurde das Narrativ bedient, dass nur Erdoğan die Wirtschaftskrise in den Griff bekommen könnte. Nur der türkische Präsident sei der Verteidiger der Rechte der gläubigen Muslime, nur er könne als starker Führer die Türkei in dieser Zeit der globalen Krisen auf dem internationalen Parkett vertreten.
Dieses Schüren von Angst vor einer ungewissen Zukunft verfängt in der türkischen Gesellschaft. Viele Menschen haben das Chaos der vielen Militärputsche vor Erdoğans Amtszeit erlebt, viele Muslime litten unter Verfolgung und Diskriminierung im öffentlichen Raum. Die Botschaft der AKP war: Wenn Erdoğan gehen muss, dann kommen diese Zeiten zurück und eine Regierung mit sechs Parteien würde noch mehr Chaos für die Türkei bedeuten.
4. Die AKP gewinnt die Parlamentswahlen
Diese Botschaften in Verbindung mit einer Opposition, die außer der Abschaffung des Präsidialsystems keine großen gemeinsamen Vorhaben im Wahlkampf verkündeten, sorgten dafür, dass auch die AKP die Parlamentswahl gewinnen konnte. In vielen Ländern würde eine Partei, die ein derartig schlechtes Wirtschaftszeugnis hat, wohl niemals wiedergewählt werden. Aber das war in der Türkei anders.
Die AKP verlor zwar mehr als sieben Prozent an Stimmen, aber auch im neuen türkischen Parlament wird sie mit der rechtsradikalen MHP eine Mehrheit haben. Das war zwar laut Umfragen im Vorfeld der Wahl zu erwarten, aber das würde Kılıçdaroğlu das Regieren als Präsident nicht einfach machen, sollte er in der Stichwahl gewinnen.
5. Wird Sinan Oğan zum Königsmacher?
Allgemein zeigen die Wahlen in der Türkei, dass Meinungsumfragen im Land nicht wirklich verlässlich sind. Ein gutes Beispiel dafür ist das Ergebnis des Nationalisten Sinan Oğan. Der ehemalige MHP-Abgeordnete stand in den Umfragen bei höchstens drei Prozent, bei der Wahl erhielt er laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu plötzlich über 5 Prozent.
Während einige Medien ihn vor dem 14. Mai nicht einmal in ihren Statistiken aufführten, weil er als Kandidat zu wenig Rückhalt zu haben schien, könnte er nun zum Königsmacher werden. Welche Wahlempfehlung wird er seinen Anhängern vor der möglichen Stichwahl geben? Ideologisch steht er dem nationalistischen Lager von Erdoğan nah. Im Wahlkampf hat er sich zwar gegen den amtierenden Präsidenten ausgesprochen, aber das vor allem, um im AKP-Spektrum Stimmen abzugreifen.
Nach der Präsidentschaftswahl werden die Karten nun neu gemischt, die Opposition steht in den kommenden Wochen vor der Stichwahl unter Druck. Am 28. Mai geht es um alles. Die gegenseitigen Angriffe der politischen Lager werden in den kommenden 14 Tagen noch heftiger werden. Der heftige Streit am Wahlabend war wahrscheinlich erst der Anfang.
- Eigene Recherche
- cnnturk.com: "Seçim 2023" (türk.)
- edition.cnn.com: "Turkey rivals both claim early lead in crucial election" (engl.)
- Nachrichtenagenturen AFP und dpa