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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Proteste in Frankreich Stoppt Macron das nicht, hat auch Deutschland ein Problem
Egal, wie wichtig eine Reform des französischen Rentensystems sein mag: Stoppt Macron sie nicht doch noch, hat auch Deutschland ein Problem.
Ist der Widerstand zu groß, ist ein Schritt zurück oftmals klüger als Gegendruck. Das gilt etwa dann, wenn ein Tisch in dem Winkel nicht durch den Türrahmen passen will, und das gilt auch für die Rentenreform des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Weiter zu drücken geht auch, nur kommt es dann zu erheblichem Schaden.
Seit Wochen gehen regelmäßig Hunderttausende Französinnen und Franzosen dagegen auf die Straße, dass ihr Präsident das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre heraufsetzen will – und die Wut nimmt zu. Er aber, der im Élysée-Palast thront, zeigte sich von Beginn an denkbar unbeeindruckt. Auch wenn ihm der Verfassungsrat nun Rückendeckung gegeben hat, muss Macron, den man durchaus als politisches Ausnahmetalent bezeichnen kann, erkennen: Es ist nicht clever, diese Reform so fortzuführen.
Am Samstag hat der französische Präsident die Reform zwar in Kraft gesetzt. Doch er muss sein Prestigeprojekt zumindest vorerst zurückziehen – will er Schlimmeres verhindern: nämlich, dass er am Ende seiner zweiten und letzten Amtszeit der Politikerin vom rechten Rand, Marine Le Pen, das Präsidentenamt übergeben muss. Egal, als wie wichtig man diese Rentenreform erachten mag, diesen Kollateralschaden wäre sie nicht wert.
Verhältnis würde sich grundlegend verändern
Auch für Deutschland wäre eine rechtspopulistische französische Präsidentin ein Problem, das Verhältnis der beiden Länder würde sich damit grundlegend verändern. In der Vergangenheit machte Le Pen mit Tiraden gegen Deutschland auf sich aufmerksam und kündigte im letzten Wahlkampf an, gemeinsame Rüstungsprojekte beenden zu wollen. Von der Forderung eines EU-Austritts Frankreichs hat sie zwar inzwischen Abstand genommen, für das europäische Projekt bedeutete sie trotzdem nichts Gutes. Im vergangenen Jahr kündigte sie an, innerhalb des Schengen-Raums wieder Grenzkontrollen einführen zu wollen.
Schon jetzt zeigt sich, dass dieses Szenario nicht aus der Luft gegriffen ist: Le Pen ist in den Umfragen diejenige, die deutlich von der Wut der Französinnen und Franzosen profitiert. Wären morgen Wahlen, würde sie den amtierenden Präsidenten schlagen. Diese Wut wird nicht aufhören, nur weil die Reform nun offiziell gemacht wurde. Am Samstag riefen Gewerkschaften und Opposition zu weiterem Widerstand auf.
Seine Reform wird als reine Verachtung der Bevölkerung gesehen
Bis zu den nächsten Wahlen 2027 ist zwar noch viel Zeit und eine Wahlentscheidung hängt immer von mehreren Faktoren ab. Doch hier ist der Macron'sche Modus der Rentenreform bedeutsam: Er hat es geschafft, dass seine Reform als reine Verachtung der Bevölkerung gesehen wird. Das befeuert den Hass auf die politische Elite – und ist ein Treiber für den Aufstieg von Rechtspopulisten. Weil der Kampf so erbittert geführt und die Debatte so aufgeheizt ist, wird das in der Bevölkerung noch lange nachhallen.
Dabei hatte Macron zu Beginn seiner zweiten und damit letzten Amtszeit noch versprochen, ein versöhnlicherer Präsident zu werden, mehr zuhören wollte er auch. Doch dann hat er die Gewerkschaften nicht richtig in den Reformprozess eingebunden. Und als er fürchten musste, die Mehrheit in der französischen Nationalversammlung zu verfehlen, drückte er sein Projekt kurzerhand ohne parlamentarische Abstimmung durch.
Wer würde profitieren, wenn Macron die Reform nun doch noch stoppte? Die Gewerkschaften, die das als einen riesigen – ihren – Erfolg verkaufen könnten, genauso wie die Streikenden und Demonstrierenden. Gewinnen würde aber auch die Bevölkerung, die sich in Umfragen mehrheitlich gegen die Reform ausspricht. Und das Vertrauen in die Demokratie.
"Immer sind es wir, die Abstriche machen müssen"
Gleichzeitig heißt das nicht, dass damit niemals eine Rentenreform in Frankreich möglich sein wird. Ein Rückzug könnte den Raum öffnen für eine breitere Debatte. In dieser müssten Arbeitsverhältnisse und Ungerechtigkeiten eine Rolle spielen. Denn Macron hat unterschätzt, dass sich durch seine Reform ein noch viel tiefer liegendes Problem zeigt: Vielen geht es nur vordergründig um die Rente, sondern eigentlich um Ungerechtigkeit. Die Reform finden viele schlicht unfair, nach dem Motto: "Immer sind es wir, die Abstriche in Kauf nehmen müssen."
Gleichzeitig hat es mit der Arbeitswelt zu tun, dass vielen in Frankreich die Rente so heilig ist. Beispielsweise haben nur 45 Prozent der Befragten das Gefühl, ihre Anstrengungen im Job würden gewertschätzt, so eine Untersuchung des Soziologen Luc Rouban, in Deutschland liegt der Wert bei 60 Prozent. In Frankreich ist der Wert bei Menschen mit geringen Einkommen besonders niedrig. Auch in diesem Punkt müsste Macron glaubhaft den Willen zeigen, etwas verbessern zu wollen.
Zunächst muss er aber eine Abwägung treffen: Will er lieber den Gewerkschaften einen Sieg verschaffen oder absehbar der Rechtsaußen Marine Le Pen? Noch kann er entscheiden, ob er tatsächlich aus Selbstgefälligkeit auf seiner Reform beharren und damit Frankreich sehenden Auges ins Unheil stürzen will. Entscheidet er sich doch noch anders – auch Deutschland müsste es ihm danken.
- Eigene Recherchen