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Armenien | "Wären die Russen nicht hier, wäre die Situation schlimmer"


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Leben im Krisengebiet
"Wären die Russen nicht hier, wäre die Situation schlimmer"


Aktualisiert am 27.03.2023Lesedauer: 6 Min.
Konflikt in Armenien: Ein armenischer Soldat patrouilliert oberhalb der Grenzstadt Dschermuk.Vergrößern des Bildes
Konflikt in Armenien: Ein armenischer Soldat patrouilliert oberhalb der Grenzstadt Dschermuk. (Quelle: CANOVAS Alvaro)

Im armenischen Grenzgebiet zu Aserbaidschan kommen die Menschen nicht zur Ruhe. Immer wieder gibt es Angriffe auf ihre Häuser und Geschäfte. Sicher fühlen sie sich nie.

Armen Tadewosjan steht vor seinem Skilift im armenischen Ferienort Dschermuk und deutet auf das Backsteinhaus. "Im letzten Jahr griffen uns die Aserbaidschaner mit schwerer Artillerie und Drohnen an", erzählt er. Die Auswirkungen dieser Angriffe sind an der Hauswand zu sehen: Schrapnelle, kleine Granatgeschosse, haben Löcher hinterlassen, ein Getränkeautomat ist noch immer durchlöchert, an den Bäumen in der Umgebung ist die Rinde durch den Beschuss teilweise abgeplatzt.

Dschermuk liegt nicht weit von der Grenze zu Aserbaidschan entfernt, gerade einmal zwölf Kilometer sind es bis dorthin. Nachdem Soldaten des Nachbarlandes im Krieg 2020 mehrere Kilometer tief in das international anerkannte armenische Staatsgebiet vordrangen und Teile davon besetzten, befinden sich ihre Stellungen allerdings nur noch vier Kilometer vom Urlaubsort entfernt. Nah genug, um Dschermuk mit schwerer Artillerie anzugreifen.

Die Geschosse, von denen Armen Tadewosjan berichtet, schlugen am 13. September 2022 kurz nach Mitternacht im Ferienort ein. "Vor dem Angriff gab es keine Warnung", sagt er. "Ich war am Skilift, als die ersten Kugeln uns trafen." Er habe sich damals schnell im Haus versteckt und die Einschläge gezählt. 45 Geschosse gingen allein im Skigebiet nieder. Mindestens zehn Blindgänger lägen heute, ein gut halbes Jahr nach dem Beschuss Dschermuks, noch im Skigebiet.

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Armenien und Aserbaidschan kämpfen um Bergkarabach

Seit dem Zerfall der Sowjetunion gibt es immer wieder Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan. Dabei geht es vor allem um die Region Bergkarabach, die nach Unabhängigkeit strebt. Aserbaidschan betrachtet sie allerdings als sein Staatsgebiet – wozu sie nach dem Völkerrecht auch gehört. Bewohnt wird Bergkarabach allerdings mehrheitlich von Armenierinnen und Armeniern.

Den ersten Bergkarabach-Krieg nach dem Zerfall der Sowjetunion gewann Armenien, im Jahr 2020 konnte Aserbaidschan die Region jedoch zurückerobern. Russland vermittelte damals ein Waffenstillstandsabkommen – und das militärisch unterlegene Armenien musste nicht nur Bergkarabach an Aserbaidschan zurückgeben, sondern auch einige weitere Gebiete.

Seitdem wurde der Waffenstillstand allerdings immer wieder von aserbaidschanischer Seite gebrochen. So auch im September 2022, als aserbaidschanische Truppen nicht mehr nur Bergkarabach, sondern das international anerkannte armenische Staatsgebiet attackierten und vor allem Anhöhen oberhalb armenischer Orte besetzten. Außerdem griffen sie Städte und Dörfer in Grenznähe mit schwerer Artillerie, Mörsern und Drohnen an – darunter auch den Skiort Dschermuk, wo Armen Tadewosjan lebt.

Milizen müssen Grenzstädte schützen

Der Angriff damals dauerte drei volle Tage. Zwischen 50 und 70 Menschen seien verletzt worden, berichtet Tadewosjan. Viele von ihnen seien junge Männer gewesen, um die 18 Jahre alt.

"Um die Sicherheit der Stadt zu stärken, werden junge Männer in der Stadt an der Waffe ausgebildet", sagt der Skiliftbetreiber. Diese Ausbildung sei in vielen armenischen Städten gängige Praxis, denn die Armee ist seit dem Krieg im Jahr 2020 geschwächt. Deshalb seien die stellvertretenden Bürgermeister für die Aufstellung von Milizen verantwortlich.

Durch den Beschuss mit schweren Waffen geriet damals zudem der Wald um Dschermuk in Brand. 80 Prozent der Bäume im Stadtgebiet brannten nieder. Die Angreifer hätten auch Streumunition eingesetzt, erzählt Armen Tadewosjan: "Die ist besonders gefährlich, denn Kinder könnten harmlos aussehende Blindgänger finden und mit ihnen spielen."

Wirtschaftlich traf der Angriff die Bewohnerinnen und Bewohner Dschermuks ebenfalls hart. "Ein großer Teil der örtlichen Wirtschaft hängt vom Tourismus ab", so Tadewosjan. Normalerweise kämen in der Wintersportsaison etwa 30.000 Menschen. Seit den Angriffen im vergangenen September hätten allerdings erst rund 3.000 Touristinnen und Touristen ihre Ferien im Urlaubsort verbracht.

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Viele hätten Angst vor weiteren Angriffen. Außerdem sind die aserbaidschanischen Artilleriestellungen von Hotelzimmern und Straßen aus zu sehen. "Wie soll man da Lust auf Urlaub bekommen?", fragt Tadewosjan.

Artillerie auf schneebedeckten Bergen

Auch weiter nördlich im Land, vom Dorf Sotk aus, sind die Stellungen der Truppen Aserbaidschans sichtbar. Sie heben sich als kleine schwarze Punkte von den schneebedeckten Bergkämmen ab, die den Ort umgeben.

Sewak Chachatrjan beobachtet die Punkte genau. Er ist der Ortsvorsteher von Sotk und blickt besorgt in die Ferne: "Dort sind Grad-Raketenwerfer und Haubitzen stationiert." Er weiß: Sein Dorf können die Raketen leicht erreichen. Und auch in Sotk sind die Spuren der vergangenen Angriffe Aserbaidschans noch deutlich zu sehen: Hinter ihm steht ein zerstörtes Haus, in dem das Einschlagloch einer Artilleriegranate noch klar erkennbar ist.

"Hier hat eine siebenköpfige Familie gewohnt", erzählt Chachatrjan. Im September 2022 hätten die Aserbaidschaner das Haus gegen vier Uhr morgens beschossen. Da der Angriff auf Sotk zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Stunde dauerte, habe die Familie ihr Haus glücklicherweise früh genug verlassen.

Wie überhastet ihr Aufbruch dabei aber war, zeigen die Haushaltsgegenstände, die in den Trümmern des Hauses liegen. Eine Nähmaschine rostet auf dem Boden vor sich hin, Scherben von zerstörtem Geschirr pflastern den Boden.

Ob die Familie, die das Haus einst bewohnte, nach Sotk zurückkommt, weiß der Ortsvorsteher nicht. "Wir werden das Haus allerdings wieder aufbauen", erklärt er.

Rote Dächer erinnern an die Zerstörung

Während des aserbaidschanischen Angriffs auf Sotk regneten Hunderte Geschosse auf das Dorf hinab und zerstörten mehr als hundert Gebäude. Seitdem hat sich das Antlitz des Dorfes verändert: So stehen viele der verwüsteten Häuser zwar wieder, allerdings sind die meisten von ihnen nur eilig mir roten Metalldächern abgedeckt worden, die seither das Dorfbild prägen.

Ein weiteres Problem, das Chachatrjan schildert: Seit dem Beschuss gibt es im Dorf kein fließendes Wasser mehr. "Die Aserbaidschaner haben unsere Wasserleitungen zerstört."

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Unabhängig überprüfen lassen sich seine Angaben nicht, jedoch gibt es selbst in den Badezimmern des Verwaltungsgebäudes in Sotk kein fließendes Wasser mehr, nachdem auch die Dorfverwaltung und die dahinterliegende Schule von Geschossen getroffen wurden. Ein großes Schrapnell haben die Verwaltungsbeamten aufbewahrt, es liegt auf einem Schreibtisch in einem der Arbeitszimmer.

"Wenn wir auf unsere Felder gehen, werden wir beschossen"

Vor dem Verwaltungsgebäude stehen einige ältere Bewohner Sotks und rauchen Zigaretten. "Wenn wir auf unsere Felder gehen, werden wir beschossen", erzählt einer von ihnen. Einmal habe ein Viehhirte doch versucht, seine Rinder zu füttern. Dabei sei er von den Stellungen auf den umliegenden Bergen beschossen worden, auch sein Pferd sei getroffen worden.

Von der armenischen Regierung fühlen sich die Bewohner Sotks im Stich gelassen. "Wir bekommen noch nicht einmal Waffen aus der Hauptstadt Jerewan, um uns zu verteidigen", sagt der ältere Mann. Allerdings scheint es andere Wege zu geben, sich zu bewaffnen. "Einige Feuerwaffen haben wir", berichtet er. Welche genau, das sagt er nicht. Zur Ruhe kommt der Ort trotz der Waffen ohnehin nicht. "Die Aserbaidschaner leuchten nachts mit Suchscheinwerfern ins Dorf", sagt Sewak Chachatrjan. "Sie tun das, um uns zu zermürben."

Grenzverlauf spaltet Dorf

Noch enger als in Sotk stehen sich aserbaidschanische und armenische Truppen im kleinen Dorf Schurnuch, abermals im Süden des Landes, gegenüber. Getrennt werden sie nur von einer Straße, die das einstmals armenische Dorf in zwei Teile spaltet. "Aserbaidschanische Truppen kamen am 15. Januar 2021 mit GPS-Geräten in unser Dorf, zeigten uns, wo die neue Grenze verlaufen sollte, und vertrieben uns aus unseren Häusern", erzählt Ararat Arabekjan, der in Schurnuch wohnte.

Nur wenige Stunden hätten er und seine Familie Zeit gehabt, um ihr Zuhause zu verlassen. In sein altes Haus sei allerdings niemand eingezogen, berichtet Arabekjan. "Die Aserbaidschaner tragen es ab und versuchen, alle Spuren armenischen Lebens auszulöschen." Die armenische Regierung habe den Bau neuer Häuser im Dorf in Auftrag gegeben. Bis zu deren Fertigstellung wohnt er mit seiner Familie in der Stadt Goris, die nur wenige Kilometer entfernt ist.

"Wir werfen keinen Schlamm auf die Russen"

Da die Straße dorthin allerdings durch das von Aserbaidschan besetzte Gebiet führt, muss er jedes Mal einen mehrstündigen Umweg in Kauf nehmen, um in sein Heimatdorf zu gelangen. Auch seine Felder kann Ararat Arabekjan nicht mehr bewirtschaften. "Ich habe hier Obstbäume und ein Gewächshaus", erzählt er.

Damit die Situation in Schurnuch nicht komplett eskaliert, sind sogenannte Friedenstruppen des russischen Geheimdienstes FSB im Dorf und auf den Zufahrtsstraßen im Einsatz.

Sie kontrollieren alle Personen, die Schurnuch betreten wollen. Dafür sind ihnen die Dorfbewohner dankbar – auch wenn sie sich natürlich wünschen würden, dass es auch ohne die russischen Soldaten friedlich bleibt. "Wir werfen keinen Schlamm auf die Russen, die hier sind", sagt Arakbekjan. "Wenn sie nicht hier wären, wäre die Situation viel schlimmer."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen vor Ort
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