Antiregierungsprotest in China "Xi hat jetzt zwei Optionen"
In mehreren chinesischen Städten demonstrieren Menschen gegen die repressive Corona-Politik. Erstmals richtet sich der Protest auch gegen Staatsführer Xi.
Aus Wut über die strengen Corona-Maßnahmen der chinesischen Regierung sind am Wochenende in mehreren Städten Tausende Menschen auf die Straße gezogen. Aus Shanghai verbreiteten sich Videoclips, in denen Demonstranten unter anderem riefen: "Nieder mit der kommunistischen Partei! Nieder mit Xi Jinping!".
Laut den Aufnahmen wurden mehrere Personen von der Polizei abgeführt. Solche offene Kritik an der Staatsführung sind in der autoritär regierten Volksrepublik sehr ungewöhnlich. Auslöser der spontanen Proteste war ein Wohnungsbrand in der nordwestchinesischen Stadt Ürümqi, bei dem mindestens zehn Menschen getötet wurden. Hausbewohner hätten wegen abgeschlossener Türen aufgrund des Lockdowns nicht ins Freie gekonnt, kritisierten Anwohner. Die 3,5 Millionen Einwohner lebten zuvor drei Monate im Corona-Lockdown.
Nach Ansicht mehrerer China-Experten könnten die Proteste ein echtes Problem für die chinesische Staatsführung werden. Denn die Demonstrationen unterscheiden sich von vergangenen in mehreren Punkten.
Was die jetzigen Proteste so gefährlich macht
"Proteste in China sind nicht neu oder ungewöhnlich", schreibt die Politikprofessorin an der University of Michigan, Mary Gallagher, auf Twitter. Die Kommunistische Partei Chinas habe immer wieder Proteste erlaubt, die eine Verbesserung der Lebensumstände forderten. "Systemkritische Proteste" seien hingegen stets unterdrückt worden.
Deswegen seien die Proteste gegen die Zero-Covid-Politik der Regierung auch so "gefährlich" für das Regime, argumentiert Gallagher: Im Gegensatz zu früheren Demonstrationen fordern die Menschen nicht, dass die Regierung handelt – etwa um Korruption zu bekämpfen –, sondern dass sie weniger handelt, um nicht die Wirtschaft zu zerstören: "Sie fordern Freiheit, um leben zu können." Diese Forderung sei potenziell eine "systemverändernde".
Neu sei zudem, dass Xi Jinping in den Fokus der Proteste gerückt ist: Der Staatspräsident stehe sinnbildlich für die harte Lockdown-Politik, daher entlade sich die Kritik vor allem an ihm, so die Politikprofessorin Gallagher.
Reaktion des Staates "bei Weitem nicht so hart" wie erwartet
Auch der China-Forscher William Hurst sieht in den Protesten ein Problem für die kommunistische Staatsführung: Nicht nur gebe es eine Vernetzung zwischen den Demonstranten in mehreren Städten. Die Proteste seien zudem offenbar von einer breiteren Gesellschaftsschicht getragen, "nicht nur von Studenten und Arbeitern", die üblicherweise Proteste organisierten, so Hurst auf Twitter.
Ein weiterer Punkt sei bemerkenswert, so der China-Experte der University of Cambridge: Die Reaktion des chinesischen Staates vergangene Nacht sei "bei Weitem nicht so hart, repressiv oder auch nur koordiniert" gewesen, wie er es erwartet hätte. Das gebe zu denken.
Tatsächlich schienen die Proteste in mehreren Landesteilen zu eskalieren. In der Hauptstadt Peking etwa durchbrachen die Bewohner in mehreren Nachbarschaften Zäune ihrer Wohnanlagen und forderten ein Ende der Lockdowns – eine offene Infragestellung des autoritären Regimes.
Macht Xi Zugeständnisse – oder alles noch schlimmer?
Wie geht es nun weiter? Sollten sich die Proteste nicht von selbst auflösen, verfüge die chinesische Führung über zwei Optionen, so der amerikanische China-Experte Yasheng Huang auf Twitter: "China kann noch repressiver werden und sich in eine Militärdiktatur verwandeln. Oder die Regierung macht Zugeständnisse und öffnet damit den Raum für weitere Forderungen."
Letzteres sei der "Tocqueville-Moment", so der China-Forscher. Der französische Philosoph hatte die Beobachtung gemacht, dass die gesellschaftliche Frustration erst recht wächst, sobald ein autoritäres Regime Zugeständnisse macht. Gerade davor fürchten sich viele Autokraten, so Huang.
- Twitter-Profile von William Hurst, Mary Gallagher und Yasheng Huang
- Nachrichtenagentur dpa