Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chaos in britischer Regierung Kurz vor dem Abgrund
Nur etwas mehr als einen Monat ist Liz Truss im Amt, schon wird über ihre Ablösung diskutiert. Wie konnte das passieren?
Wer wissen will, wie schlecht es gerade um Liz Truss steht, musste am Freitagmorgen nur auf die Titelseite des "Daily Star" blicken: In Wettbüros stünden die Quoten mittlerweile 6 zu 1, dass die britische Premierministerin schneller ihr Amt verliert, als ein Salatkopf verfault. Um die Geschichte auf die Spitze zu treiben, richtete das Boulevardblatt auf YouTube einen Livestream ein, der seitdem ein Foto von Truss neben dem Gemüse zeigt. Manch ein User kommentiert ironisch: "Ich setze mein Geld auf den Salat."
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen Youtube-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren Youtube-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Hintergrund der Aktion war ein Artikel, der Tage zuvor im "Economist" erschienen war: "Nimmt man die zehn Tage der Trauer nach dem Tod von Königin Elizabeth II. weg, hatte sie [Truss] sieben Tage lang die Kontrolle. Das entspricht in etwa der Haltbarkeit eines Salats", ätzte das Magazin über die noch junge Amtszeit der britischen Regierungschefin. Eine Ipsos-Umfrage kam jüngst zu dem Ergebnis, dass nur 16 Prozent der Briten mit ihr zufrieden seien. Es ist der schlechteste Wert, der jemals bei einem britischen Regierungschef gemessen wurde.
Am Freitagnachmittag kam es dann tatsächlich zu einer Änderung im britischen Kabinett: Allerdings musste nicht Truss, sondern ihr Schatzkanzler Kwasi Kwarteng seinen Posten räumen. Doch wie konnte die Premierministerin und ihre Regierung so schnell die Kontrolle verlieren? t-online mit den wichtigsten Fragen zum Briten-Chaos.
Warum steht Truss so stark unter Druck?
Truss wurde von der Parteibasis der konservativen Torys zur Nachfolgerin von Boris Johnson gekürt, weil sie immer wieder ein zentrales Versprechen wiederholte: hohes Wirtschaftswachstum, niedrige Steuern. Davon wollte Truss auch in ihren ersten Wochen als Regierungschefin nicht abrücken: Die ausbleibenden Einnahmen will die britische Regierung mit neuen Schulden gegenfinanzieren.
Schon während ihres Wahlkampfes um die Nachfolge von Johnson hatten Ökonomen vor Truss' Plänen gewarnt: Die Inflation liegt auf der Insel aktuell mit rund zehn Prozent so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr – Tendenz steigend. Zusätzlich sorgt der Brexit dafür, dass die Preise dort noch schneller als in Kontinentaleuropa in die Höhe schnellten.
Auch jetzt warnen Experten, dass die Finanzpläne der neuen Premierministerin die Inflation nicht lindern, sondern verstärken könnten. Truss' nun geschasster Schatzkanzler Kwasi Kwarteng kündigte dennoch an, dass Großbritannien die größte Steuersenkung der vergangenen 50 Jahre plane: Die Medien sprachen daher von einem "Mini Budget", da Truss die Steuereinnahmen möglichst niedrig halten will.
Chaos an den Börsen
Danach brach an den Finanzmärkten allerdings ein solches Chaos aus, dass Truss zurückrudern musste: Die geplante Senkung des Spitzensteuersatzes von 45 auf 40 Prozent wurde kurzerhand abgeblasen. "An den Märkten hält man die britische Wirtschaftspolitik für wahnhaft", sagte zuletzt der Großbritannien-Experte Roderick Parkes von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) t-online. Mehr dazu lesen Sie hier.
"Wir haben es verstanden, wir haben zugehört", erklärte Kwarteng Anfang Oktober die Kurskorrektur. Truss ließ die Medien wissen, sie habe das Vorhaben zuvor im Alleingang mit ihrem Finanzminister entschieden. Gleichzeitig betonte sie, dass die Idee für die Senkung von Kwarteng kam.
Es war wohl ein erster Hinweis darauf, dass er bald geopfert werden könnte. Von einem Treffen des Internationalen Währungsfonds in Washington reiste der Schatzkanzler in dieser Woche vorzeitig ab, um am heutigen Freitag wieder in London zu sein. Zu Hause wartete dann nur noch seine Entlassung. Sein Nachfolger wird Jeremy Hunt, der in den vergangenen Jahren unter anderem Außen- und Gesundheitsminister war.
Um noch mehr Druck aus dem Kessel zu nehmen, versprach Truss eine weitere Kurskorrektur: Die Körperschaftssteuer soll künftig von 19 auf 25 Prozent angehoben werden. Das hatte zwar bereits die vorherige Regierung beschlossen, aber Truss hatte geplant, die Erhöhung rückgängig zu machen.
Wie könnte Truss gestürzt werden?
Glaubt man der britischen "Times", waren die Umsturzpläne der Torys bereits vor der Entlassung von Kwarteng sehr konkret: Man denke innerhalb der konservativen Fraktion darüber nach, einen "Einheitskandidaten" zu bestimmen, der Truss ablösen könnte. "Die Gespräche nehmen zu", beruft sich die Zeitung auf einen ehemaligen Minister.
Allerdings ist es aktuell nicht so leicht möglich, dass Truss durch ein Misstrauensvotum von ihrer eigenen Fraktion aus dem Amt gejagt wird: Die Regeln des zuständigen 1922-Komitees sehen vor, dass die britische Regierungschefin in ihrem ersten Jahr im Amt sich einer solchen Abstimmung nicht stellen kann. Die Regularien müssten also vorher geändert werden.
Grundsätzlich könnten auch Neuwahlen angesetzt werden. Dafür wäre eine Zweidrittelmehrheit im britischen Unterhaus nötig. Ob die Torys daran aber ein Interesse haben, ist fraglich: In Umfragen käme die sozialdemokratische Labour-Partei derzeit auf 50 Prozent der Stimmen, während die Konservativen weit abgeschlagen bei nur 24 Prozent liegen. Ausschließen will der britische Politologe Anthony Glees aber nicht, dass es dazu kommt, sofern bei den Konservativen sich die Meinung durchsetzt, dass sie die aktuelle Situation alleine nicht mehr lösen können: "Sie haben alle Glaubwürdigkeit verloren. Es wäre durchaus jetzt sinnvoll, Labour den Mist zu überlassen", sagte Glees t-online.
Wer könnte die Premierministerin ersetzen?
Laut dem Bericht der "Times" soll es Überlegungen geben, dass künftig Rishi Sunak und Penny Mordaunt den Takt bei den Torys angeben: Beide hatten sich zuvor bereits um die Johnson-Nachfolge beworben, waren aber an Truss gescheitert. Ein nicht genannter Tory-Abgeordneter nannte zwei mögliche Szenarien: Sunak könnte Truss' Posten übernehmen, während Mordaunt Außenministerin und seine Stellvertreterin wird. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Mordaunt Premierministerin wird, während Sunak den Posten des Schatzkanzlers übernimmt. Das Amt hatte er bereits unter Boris Johnson inne.
Betrachtet man die Stimmungen innerhalb der Konservativen, wäre eine der Konstellationen durchaus sinnvoll: Im Kampf um die Johnson-Nachfolge hatte Sunak innerhalb der Tory-Fraktion mehr Fürsprecher für sich gehabt als Truss. Mordaunt wiederum hatte in Umfragen die größten Zustimmungswerte an der Parteibasis gehabt. Truss kam so gesehen nur als Kompromisskandidatin in die Downing Street – mit der augenscheinlich niemand wirklich zufrieden ist.
Ist die Entlassung von Kwarteng ein Befreiungsschlag?
Davon ist aktuell nicht auszugehen. Denn Kwarteng hat letztendlich genau die Politik umgesetzt, die Truss in ihrem Wahlkampf lang und breit der britischen Bevölkerung versprochen hat. Insofern ist er ein Bauernopfer.
Auch die Partei scheint durch die Entlassung weiter in Aufruhr. Laut Informationen der BBC planen einige hochrangige Torys, in der kommenden Woche Liz Truss öffentlich zum Rücktritt aufzufordern. "Die Premierministerin wird es schwer haben zu überleben", zitiert der Sender eine nicht genannte Quelle. Offenbar habe es Truss unterschätzt, dass auch Kwarteng viele Fürsprecher in der Partei habe und nun der Druck auf sie weiter steigen könnte.
Wankelmütige Opportunistin
Mit der Entlassung von Kwasi Kwarteng hat sich Truss nur für kurze Zeit Luft verschafft. Denn ihr Grundproblem bleibt: Um die wirtschaftliche Lage in Großbritannien halbwegs in den Griff zu kriegen, müsste sie vermutlich ihre Steuerpolitik radikal ändern. Doch daran scheint sie nicht zu denken: "Die Mission bleibt bestehen", teilte Truss nach dem Rauswurf von Kwarteng mit. Sie sei gewählt worden, um die britische Wirtschaft anzukurbeln und die Steuern niedrig zu halten.
Eine Abkehr von ihrem Kurs würde ihr allerdings auch nur bedingt helfen: Truss gilt ohnehin schon als wankelmütige Opportunistin. Ohne Steuersenkungen würde sie die Hardliner ihrer Partei noch stärker gegen sich aufbringen, ohne deren Unterstützung sie überhaupt nicht in die Downing Street gekommen wäre. Insofern sitzt Truss in einer Zwickmühle, die sich kaum mehr auflösen lässt.
Truss gehen die Optionen aus
In jedem Fall hat sie nach der Entlassung von Kwarteng nicht mehr die Möglichkeit, einen anderen Politiker zu opfern, um sich selbst im Amt zu halten. Die Torys könnten nach ihrem Sturz einen ähnlichen Wettbewerb ausrufen, wie bei der Nachfolge von Boris Johnson. Eine Doppelspitze aus Sunak und Mordaunt könnte versuchen, die Partei über Wasser zu halten: Beiden Politiker ist in der aktuellen Situation wohl mehr zuzutrauen als Truss – und bei Neuwahlen würde die konservative Partei im Moment wohl krachend gegen Labour verlieren.
Trotzdem sollte eine Neuwahl nicht gänzlich ausgeschlossen werden: Glaubt man den Umfragen wird deutlich, dass eine Tory-Regierung aktuell nicht mehr die Stimmung innerhalb der Mehrheit der britischen Bevölkerung abbildet.
- Eigene Recherche
- dailystar.co.uk: "Will Daily Star's 60p Tesco lettuce or PM Liz Truss last longer? Watch live feed" (englisch)
- economist.com: "Liz Truss has made Britain a riskier bet for bond investors" (englisch, kostenpflichtig)
- thetimes.co.uk: "Tories plot to replace Liz Truss with Rishi Sunak and Penny Mordaunt" (englisch, kostenpflichtig)
- politico.eu: "United Kingdom: National Parliament Voting Intention" (englisch)#
- telegraph.co.uk: "Penny Mordaunt would see off every Tory leadership rival, grassroots poll shows" (englisch, kostenpflichtig
- twitter.com: "Tweet von @nicholaswatt" (englisch)
- bbc.com: "What was in the mini-budget and what has changed?" (englisch)