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Umkämpfte Fangquoten
Brexit-Poker: Alles hängt am Fisch

Eine Analyse von Stefan Rook

Aktualisiert am 18.11.2020Lesedauer: 4 Min.
Boris Johnson beim Wahlkampf 2019 im Grimsby Fischmarkt mit einem Dorsch: Die Fischereirechte sind zu einem Stolperstein bei den Verhandlungen über einen Brexit-Handelspakt geworden.Vergrößern des Bildes
Boris Johnson beim Wahlkampf 2019 im Grimsby Fischmarkt mit einem Dorsch: Die Fischereirechte sind zu einem Stolperstein bei den Verhandlungen über einen Brexit-Handelspakt geworden. (Quelle: Ben Stansall/getty-images-bilder)

Die Brexit-Verhandlungen stecken fest. Der Streit um die Fischereirechte blockiert eine Einigung. Das Thema ist enorm emotional – und ein echtes Druckmittel der Briten gegenüber der EU.

Scheitert das Handelsabkommen der EU mit Großbritannien an Dorsch, Hering und Makrele? Neben unterschiedlichen Vorstellungen über gemeinsame Wettbewerbsbedingungen kann der erbitterte Streit um die Fischfangquoten zum Stolperstein für einen Handelspakt nach dem EU-Austritt der Briten werden. Boris Johnson, der sich gerade erneut in Corona-Isolation begeben musste, erklärt sich demonstrativ zum "Fishermen's Friend".

Das Thema ist für Großbritannien eher symbolisch als wirtschaftlich wichtig. Der Fischfang war 2019 für weniger als 0,1 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung verantwortlich. In Ländern wie Frankreich, Belgien oder Dänemark ist die Fischerei in britischen Gewässern jedoch eine hochpolitische Frage. Und auf beiden Seiten hängen Tausende Jobs an der Fischindustrie. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron stellte jedenfalls klar: "Auf keinen Fall dürfen unsere Fischer die Opfer des Brexit sein."

Doch die Briten haben auf den ersten Blick bei diesem Spiel im Brexit-Poker alle Trümpfe in ihrer Hand. Mit dem EU-Austritt erhalten sie die volle Kontrolle über die britischen Gewässer zurück. Ohne Einigung haben EU-Fischer ab dem Jahreswechsel überhaupt keinen Zugang mehr zu den extrem fischreichen Gewässern. "Das ist eine der ganz wenigen Fragen, wo die Briten tatsächlich einen Hebel haben gegenüber der EU", sagt ein EU-Diplomat. Nach britischen Angaben holen derzeit Fischer aus der EU bis zu achtmal mehr Fisch aus den britischen Gewässern als umgekehrt. Das weiß auch Macron.

Die EU wirft den Briten bei den Brexit-Verhandlungen immer wieder vor, Rosinenpickerei zu betreiben, also alle Vorteile einer EU-Mitgliedschaft behalten und alle Verpflichtungen loswerden zu wollen. Beim Streit um die Fangquoten verhält sich die Europäische Union aber nicht anders. EU-Chefunterhändler Michel Barnier gab das im Juni auch unumwunden zu, als er zum Streit um die Fischereirechte erklärte: "Die EU will den Status Quo beibehalten, Großbritannien will alles ändern." Diese Position wird in London als Frechheit empfunden.

Briten müssen keinen Zugang zu ihren Gewässern gewähren

Das internationale Recht ist auf Seiten der Briten. Als unabhängiger Küstenstaat ist Großbritannien nicht verpflichtet, ausländischen Fischerbooten Zugang zu seinen Gewässern zu gewähren. Die britischen Fanggründe erstrecken sich bis zu 200 Seemeilen (rund 340 Kilometer) in den Nordatlantik und betreffen auch die fischreichsten Gebiete der Nordsee. Dort hätten EU-Fischer nur Fangrechte, wenn das Vereinigte Königreich sie nach dem Brexit neu vergeben würde.

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Zudem will Großbritannien die Fangquoten in den gemeinsamen Fanggebieten nicht mehr auf der Basis der insgesamt erlaubten Höchstmenge je Fischart bestimmen lassen, sondern in jährlichen Neuverhandlungen nach geografischen Zonen, je nach Fischreichtum. So geschieht dies in den Beziehungen der EU mit Norwegen. Dies würde den Briten mehr Fangmengen garantieren als das herkömmliche Verfahren. Die genauen Fangquoten sind vor allem für französische Fischer wichtig, die in britischen Gewässern sehr aktiv sind.

Drastische Folgen auch für deutsche Fischer

Sollte keine Vereinbarung zustande kommen, könnte das auch für die deutschen Fischer drastische Folgen haben. "Wenn das Fischereiabkommen nicht bis Ende 2020 ratifiziert ist, dürfen wir nicht mehr in britische Gewässer fahren", sagt der Vorsitzende des Deutschen Hochseefischerei-Verbandes, Uwe Richter. Unter anderem der gesamte Nordseehering, der in Sassnitz auf Rügen bei der Euro-Baltic Fischverarbeitungs GmbH verarbeitet wird, stammt Richter zufolge aus britischen Gewässern. "Das sind circa 40.000 Tonnen", sagte er.

Das Problem für die Briten: Scheitert ein Handelspakt am Ende auch an den Fischfangquoten, können sie zwar ab 2021 jede Menge Fisch fangen, den aber nur schwer verkaufen. Drei Viertel aller Fischexporte aus dem Vereinigten Königreich gehen derzeit in die EU. Zölle auf britische Fänge würden die heimische Fischindustrie empfindlich treffen. Das weiß auch Johnson.

Warum Fischerei ein so emotionales Thema ist

Für den britischen Premierminister geht es bei den Fischereirechten um viel mehr als nur wirtschaftliche Interessen. Der Fischfang wurde von Brexit-Befürwortern zu einem Paradebeispiel für die Drangsalierung der Briten durch die EU und deren Vorgänger stilisiert. Die Argumentation: Seit den 1970er-Jahren würden die britischen Fischer durch Regulierungen vom europäischen Festland systematisch benachteiligt. So sei der jahrzehntelange Niedergang der britischen Fischerei zu erklären. Mit dem Brexit hätte das alles ein Ende, die Briten könnten dann wieder selber entscheiden, wer, was und wie viel fischt. Für viele Brexit-Befürworter ist die Fischerei also ein Thema, mit dem Großbritannien zeigen kann, dass das Land souveräner als vorher ist.

Vor allem im Nordosten Frankreichs hängen Tausende Jobs an der Fischindustrie, für die die Fischereirechte in britischen Gewässern überlebenswichtig sind. Neben der Fischerei gibt es dort nur noch den Tourismus als großen Arbeitgeber. Bis zu 80 Prozent der französischen Fischerei in diesem Gebiet findet in britischen Hoheitsgewässern statt – der freie Zugang ist bisher durch die europäischen Verträge garantiert. Sollte dieser nach dem 1. Januar wegfallen oder drastisch eingeschränkt werden, droht der Zusammenbruch der Fischindustrie. Deshalb ist der Widerstand vor allem der Franzosen gegenüber jeder Änderung des derzeitigen Zustands so radikal.

Johnsons Bredouille beim Fischfang

Beide Seiten müssen von ihren Maximalforderungen Abstand nehmen. Die EU kann nicht verlangen, dass sich nach dem Austritt der Briten für die EU-Fischer nichts ändert. Die Briten müssen der EU angemessene Fangquoten zugestehen, die zwar niedriger, aber nicht wesentlich niedriger sind als derzeit. Da Großbritannien hier in der besseren Verhandlungsposition ist, könnte Johnson versuchen, mit einem Entgegenkommen bei den Fischereirechten Erleichterungen bei anderen umstrittenen Punkten – etwa beim Zugang der britischen Finanzbranche zum EU-Binnenmarkt – zu erreichen. Ob sich die EU auf einen derartigen Handel einlässt, ist jedoch fraglich.

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Johnsons Bredouille: Nach den Abgängen von Chefberater Dominic Cummings und Kommunikationschef Lee Cain befürchten die Brexit-Hardliner, ihren Einfluss auf Johnson zu verlieren. Sollte Johnson bei den Fischereirechten gegenüber der EU nachgeben, würden die Brexiteers ihm das als Verrat ankreiden und so für weitere Unruhe in seiner Regierung sorgen.

Ohne Kompromiss könnte es allerdings zu der absurden Situation kommen, dass Fisch in der EU knapp und deutlich teurer wird, während die Fänge im Vereinigten Königreich vergammeln. Am meisten leiden würden darunter die Fischer – auf beiden Seiten des Ärmelkanals.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, Reuters
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