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EU: Europastaatsminister Michael Roth will Polen und Ungarn sanktionieren


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EU in der Krise
So soll es Polen und Ungarn an den Kragen gehen

InterviewVon Madeleine Janssen

21.08.2020Lesedauer: 7 Min.
Der Schwachpunkt der EU in der internationalen Politik? "Wir sprechen zu selten mit einer Stimme", sagt Michael Roth.Vergrößern des Bildes
Der Schwachpunkt der EU in der internationalen Politik? "Wir sprechen zu selten mit einer Stimme", sagt Michael Roth. (Quelle: Adrian Röger/t-online)
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Polen und Ungarn verabschieden sich von der Demokratie, die EU reagiert mit Worthülsen. Das soll sich jetzt ändern. Europastaatsminister Michael Roth rüstet gegen die Autokraten auf.

Seit Jahren ärgert sich die Europäische Union mit zwei ihrer Mitglieder herum: Polen und Ungarn scheren sich nicht um den Schutz ethnischer und sexueller Minderheiten, um die Unabhängigkeit der Gerichte oder um die Pressefreiheit. Bisher konnte Brüssel dem wenig entgegensetzen – Polen und Ungarn schützen sich gegenseitig und blockieren Sanktionen.

Damit soll jetzt Schluss sein. EU-Geld will Brüssel fortan nur noch verteilen, wenn Mitglieder sich an die rechtlichen Vorgaben halten. Über so eine Rechtsstaatsklausel wird jetzt verhandelt, die Zeit drängt. Denn ein neuer EU-Haushalt muss her, sonst geht der Gemeinschaft zum Jahresende das Geld aus. Der Druck birgt auch Chancen, findet Europastaatsminister Michael Roth (SPD). "Wir waren noch nie so nah dran an einer Lösung", sagt er. Mehr über die gigantischen Baustellen, die die Deutschen während ihrer EU-Ratspräsidentschaft bearbeiten müssen, lesen Sie hier.

Das Geld zu kürzen ist vielleicht das wirksamste Instrument gegen autokratische Entwicklungen. Aber Roth will sich anschauen, wie Rechte und Gesetze in der EU insgesamt eingehalten werden. Deshalb wirbt er für ein weiteres Werkzeug: den sogenannten Rechtsstaatscheck. Und dem muss sich auch Deutschland unterziehen.

t-online.de: Rechtsstaatlichkeit ist ein sehr sperriger Begriff. Wie würden Sie den Ihrer Oma erklären?

Michael Roth: Es gilt nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist der Wesenskern der Europäischen Union. Sie ist kein "nice to have". Sie gewährleistet, dass für alle Bürgerinnen und Bürger die Grundrechte gelten. Im Rechtsstaat entscheidet nicht einfach der spontane Wille einer Mehrheit, nicht die Dicke des Geldbeutels, nicht die Lautstärke. Alle – ob stark oder schwach, Regierung oder Opposition, Bürgerinnen und Bürger – sind an Regeln gebunden und dürfen nur im Rahmen der bestehenden Gesetze handeln. Und ich möchte das durchaus etwas weiter fassen: Man geht respektvoll und anständig miteinander um. Ich hoffe, dass meine Oma das so verstanden hätte.

Wie Respekt und Anstand definiert werden, kann ja von Land zu Land unterschiedlich ausgelegt werden. Die Länder, über die wir gleich noch genauer sprechen werden – Polen und Ungarn – dürften sagen, das ist uns doch egal, wie das in Deutschland oder Frankreich gehandhabt wird.

Natürlich unterscheiden sich die EU-Mitgliedstaaten auch im Aufbau und in der Ausgestaltung ihrer politischen Systeme und Verfassungen. Das ist historisch und kulturell gewachsen. Schauen Sie sich nur an, wie unterschiedlich Deutschland und Frankreich aufgebaut sind. Doch bei aller bereichernden Verschiedenheit gibt es Prinzipien, die überall in Europa gelten müssen. Diese sind in den EU-Verträgen genau festgelegt. Alle Staaten haben das unterschrieben. Da gibt es keinerlei Spielraum, keine Rabatte, da dürfen wir auch kein Auge zudrücken.

Michael Roth, Jahrgang 1970, ist seit 2013 Europastaatsminister im Auswärtigen Amt. Er stammt aus Hessen und setzt sich immer wieder für die Rechte von sexuellen Minderheiten ein.

Nennen Sie uns Beispiele.

Es darf keine politische Einflussnahme auf Richterinnen oder Richter geben. Kein Politiker darf bei einem Gericht anrufen und versuchen, auf ein bestimmtes Urteil Einfluss zu nehmen. Das verbietet sich in einer rechtsstaatlichen Demokratie. Wer freie Medien will, braucht eine vielfältige Medienlandschaft. Werden Presse und Fernsehsender von wenigen Gruppen kontrolliert, lähmt dies die demokratische Kultur.

In Deutschland stehen manche Verfassungsrichter auch einer Partei nahe.

Ähnlich argumentieren die Ungarn und Polen bisweilen auch, wenn wir uns kritisch über ihre Justizreformen äußern. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: Bei uns entscheiden Bundestag und Bundesrat darüber, wer Richterin oder Richter am Verfassungsgericht wird. Und: Regierung oder Parlament nehmen keinen Einfluss auf die Arbeit der Justiz.

Sie haben sie gerade schon angesprochen: Polen und Ungarn. Dort sieht das ganz anders aus. Viktor Orban und der faktische Regent Polens, Jaroslaw Kaczynski, tanzen der EU seit Jahren auf der Nase herum. Was von dem, was die da machen, finden Sie eigentlich am schlimmsten?

In Teilen der EU wird in teilweise sehr verquerer Weise argumentiert, was Demokratie eigentlich ist – und dann wird Demokratie als Herrschaft der Mehrheit umgedeutet. Da scheint es die Vorstellung zu geben, dass man ohne Rücksicht auf den politischen Gegner und gesellschaftliche Minderheiten radikale Schritte gehen kann, sobald man sich die Mehrheit gesichert hat. Das passt nicht zu unserem Verständnis von Demokratie.

Sie sprechen von Teilen der EU, meinen aber offensichtlich Polen und Ungarn. Unterm Strich sind die beiden Länder also keine Demokratien mehr.

Selbstverständlich sind das noch Demokratien! Die Regierungen wurden demokratisch gewählt, die Verfassungen sind demokratisch. Die demokratische Ordnung in diesen Ländern ist nicht außer Kraft gesetzt. Aber die demokratische Kultur leidet. Es findet dort ein teils systematischer Umbau statt, der mit den EU-Verträgen nicht vereinbar ist – das hat der Europäische Gerichtshof klar festgestellt, etwa mit Blick auf das ungarische NGO-Gesetz. Daher ist es allerhöchste Zeit, dass wir uns endlich wieder darauf verständigen, was Rechtsstaatlichkeit und unsere Werte eigentlich ausmachen.

Was wollen Sie denn dagegen machen, dass Demokratien in Europa autoritäre Tendenzen entwickeln?

Vorsicht! Stellen Sie bitte Staaten und Gesellschaften nicht unter einen kollektiven Generalverdacht. "Die Polen" und "die Ungarn", das gibt es so gar nicht. Es gibt in beiden Ländern eine sehr aktive Zivilgesellschaft. Und die braucht den Zuspruch und die Unterstützung der EU. Schweigen und Wegducken sind keine Option. Diese mutigen und engagierten Menschen müssen spüren, dass sie auf uns zählen können, dass auf die EU Verlass ist. Zumal auch der Druck in unseren eigenen Gesellschaften wächst, in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Werte Klarheit zu schaffen. Dabei reichen die bisherigen Instrumente jedoch nicht aus. Das Artikel-7-Verfahren wird zwar auch "Atombombe" genannt...

Das EU-Urgestein Jean-Claude Juncker hat es uns gegenüber neulich als "zahnlosen Tiger" bezeichnet, weil es Einigkeit im Rat erfordert und Polen und Ungarn sich gegenseitig vor Sanktionen schützen können…

Diese "Bombe" wird eben nur unter politisch sehr hohen Voraussetzungen gezündet und führte schließlich dazu, dass einem Mitgliedstaat das Stimmrecht im Rat entzogen würde. Damit würde das betroffene Land letztlich isoliert. Ob das dann so hilfreich ist, darüber kann man sicher auch streiten. Wir arbeiten jetzt an neuen Werkzeugen: Die Rechtsstaatskonditionalität soll EU-Geld daran knüpfen, dass sich Mitglieder an geltendes Recht halten. Wer die Vorgaben missachtet, bekommt weniger Geld. Ganz einfach. Das soll jetzt als Klausel Teil des neuen EU-Haushalts für die kommenden Jahre werden.

Das hätte man doch aber schon vor Jahren haben können.

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In der Vergangenheit hatten wir uns in der EU schlicht noch nicht darauf einigen können. Viele haben zu lange gehofft, dass es schon nicht so schlimm kommen würde wie aktuell in Polen oder Ungarn. Es ist noch nicht lange her, da war Viktor Orban gern gesehener Gast auf CSU-Klausurtagungen und wurde da als Superstar gefeiert. Alle spüren inzwischen, dass die bisherige Politik, die Causa Ungarn möglichst niedrig zu hängen, gescheitert ist. Hinzu kommt: Die EU steckt seit der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise in einem permanenten Krisenmodus. Das Thema Rechtsstaatlichkeit und die Frage, wie es um das Innere von EU-Mitgliedern steht, hat da leider nicht immer die gebührende Aufmerksamkeit erhalten.

Jetzt soll es also endlich soweit sein. Haben Sie neben der Verknüpfung von EU-Mitteln und Rechtsstaatlichkeit noch andere Werkzeuge geplant?

Wir wollen einen Rechtsstaatscheck einführen: Auf Grundlage eines Berichts der EU-Kommission würde dann regelmäßig die Lage der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten überprüft werden. Dieser Rechtstaatscheck ist eine der großen Prioritäten unserer EU-Ratspräsidentschaft. Hier steht Deutschland ganz besonders in der Verantwortung.

Das heißt, auch Deutschland muss sich da überprüfen lassen?

Klar, das gilt auch für Deutschland! Wie unabhängig ist die Justiz? Wie frei und vielfältig ist die Medienlandschaft? Wie gut funktioniert die Kontrolle zwischen den einzelnen Verfassungsorganen? Wird Korruption entschlossen bekämpft? Das sind die wichtigsten Fragen. Nationale Expertinnen und Experten, aber auch Nichtregierungsorganisationen wurden dafür von der Kommission befragt.

Im Vergleich zu Polen und Ungarn läuft der Rechtsstaat bei uns doch aber ganz gut.

Auch bei uns liegt einiges im Argen. Ein Aspekt, der zu dem Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn geführt hat, war der grassierende Antisemitismus in Ungarn. Ich kann nicht kritisch über den Antisemitismus in anderen Ländern sprechen, ohne den erschreckenden Zuwachs an antisemitischen Straftaten in Deutschland zu nennen.

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Kann das Projekt noch scheitern?

Im Oktober wollen wir im Kreise der Mitgliedstaaten erstmals über einen Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit sprechen, den die EU-Kommission auf den Tisch legt. Danach folgen Beratungen über die einzelnen Länderberichte der 27 EU-Mitglieder, in alphabetischer Reihenfolge. Wichtig ist jetzt, dass alle Länder mitziehen und wir ordentlich vorankommen. Ein Scheitern kann sich unsere Rechts- und Wertegemeinschaft nicht leisten, es geht auch um die Glaubwürdigkeit der EU auf der internationalen Bühne. Ich bin überzeugt: Der Rechtsstaatscheck ist eine Riesenchance für uns alle.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, wenn die Länderberichte vorliegen?

Alle EU-Mitglieder haben dann die Chance, an kritischen Punkten zu arbeiten und damit die Gesamtlage innerhalb der EU zu verbessern. Wird es bei diesem Instrument Strafen oder Sanktionen geben? Nein. Das ist aber auch nicht Sinn und Zweck dieses einen Instrumentes. Der Rechtstaatscheck wird neben den Artikel-7-Verfahren und der Rechtsstaatsklausel bei der Vergabe von Mitteln ein drittes wichtiges Instrument sein, um die Rechtsstaatlichkeit in Europa endlich spürbar zu stärken.

Ende Juli traten die Staats- und Regierungschefs in Brüssel zu einem Sondergipfel über den Corona-Wiederaufbaufonds sowie die EU-Finanzen der kommenden Jahre zusammen. Eine eindeutige Festlegung auf die Rechtsstaatskonditionalität gab es nicht, die Klausel soll erst noch von der Kommission ausgearbeitet werden. Verstehen Sie, dass man in Budapest und Warschau nach dem Gipfel gefeiert hat?

Es musste ein gemeinsames Ergebnis präsentiert werden. Was da zusammengeschrieben wurde, klingt teils krude und ist zugegebenermaßen schwer verständlich. Trotzdem hat mich die Umdeutung der Gipfel-Beschlüsse in Polen und Ungarn überrascht. Ich frage mich: Was haben die Regierungschefs dort eigentlich gelesen? Die Kommission, der Ratspräsident und eine überwältigende Mehrheit der Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament lesen das komplett anders.

Wie geht es dann weiter?

Rat und Parlament müssen auf den Klausel-Vorschlag der Kommission hin eine Verordnung aushandeln. Was ich aus dem EU-Parlament ziemlich klar heraushöre: Die Parlamentarier werden dem Haushaltsplan – zu dem ja auch der Wiederaufbaufonds gehört – nur zustimmen, wenn diese Klausel zur Rechtsstaatlichkeit darin auftaucht. Damit wird die EU ein wirkungsvolles Instrument an die Hand bekommen. Wir waren noch nie so nah an einer Lösung. Diese Chance müssen wir jetzt nutzen!

Ganz schön explosiver Stoff.

Wie schwer die Krise ist, das ist allen bewusst. Gerade für die besonders unter der Pandemie leidenden Länder wie etwa Spanien, Italien und Frankreich ist es nun wichtig, dass die Gelder rasch fließen – und nicht erst in drei Jahren. Wir brauchen eine baldige Einigung mit dem Parlament, sonst haben wir ab 1. Januar 2021 keinen EU-Haushalt. Sie haben aber recht: Das werden harte Verhandlungen.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Michael Roth
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