Druck und Streit auf EU-Gipfel Merkel und Macron müssen einige Kröten schlucken
Seit Tagen beraten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, wie hoch die Corona-Hilfen ausfallen sollen und wie sie zurück gezahlt werden können. Nun gibt es eine Einigung.
Die alten Hasen der EU, die Veteranen und Insider, warfen am Montag das Stichwort Nizza in die Runde. Nizza 2000, das war mit 90 Stunden der längste Gipfel in der Geschichte der Europäischen Union. Zwanzig Jahre später hat der epische Streit der 27 EU-Staaten um das Milliardenpaket gegen die Corona-Krise das Zeug, Nizza in den Schatten zu stellen. Nicht nur bei der Verhandlungsdauer.
Die wichtigsten Punkte im Überblick:
- 390 Milliarden Euro als Corona-Zuschüsse geplant
- Insgesamt sind 750 Milliarden Euro im Fond
- Rückzahlung der Gesamtsumme bis 2058
- Ein Mechanismus in der EU zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit
"Es war klar, dass es unglaublich harte Verhandlungen gibt", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag in Brüssel, immerhin schon Tag vier bei einem Sondergipfel, der nach zwei Tagen am Samstag zu Ende sein sollte. Und immer noch sprach Merkel von einer "verbleibenden Wegstrecke, die nicht einfach werden wird". Der lettische Ministerpräsident Krišjānis Kariņš nannte die Verhandlungen ganz schlicht "die schwierigsten, an denen ich jemals beteiligt war".
Eine erste gute Nachricht kam am Montagabend immerhin: Der dickste Brocken im Streit über das 750 Milliarden Euro schwere Corona-Aufbaupaket und den nächsten siebenjährigen EU-Haushaltsrahmen im Wert von mehr als 1.000 Milliarden ist ausgeräumt. Die Kritiker des Corona-Plans haben akzeptiert, dass im Namen der Europäischen Union in großem Stil Schulden aufgenommen und gemeinsam zurückgezahlt werden. Dafür mussten Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron, aber auch die Pandemie-Krisenstaaten im Süden eine andere Kröte schlucken: Der Umfang des Geldes, das als Zuschuss an EU-Staaten gehen kann, wird von 500 auf 390 Milliarden Euro zurechtgestutzt. Zudem hat es in der Nacht zu Dienstag auch eine Einigung im Streit um die Rechtsstaatlichkeitsformel gegeben. Am Dienstagmorgen dann endlich die Bestätigung: Die Staaten einigten sich über ein billionenschweres Finanzpaket.
Beispielloses Finanzpaket
Die Teileinigung am Abend hatte die Zuversicht auf einen großen Deal bei dem beispiellosen Finanzpaket gehoben. Doch folgten sofort Warnungen vor zu viel Optimismus. Es könne immer noch schiefgehen, sagte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, der sich lange gegen Zuschüsse gesperrt hatte. Er bleibe extrem vorsichtig, meinte Macron. Die letzten Schritte seien die schwersten, raunte EU-Ratschef Charles Michel, der den Gipfel zu managen hatte und dabei augenscheinlich zeitweise nervlich an seine Grenzen kam. Drei Tage und drei Nächte Druck, Streit, Schlafmangel – ein Gipfel der Superlative auch hier.
Warum ist das alles so schwer? Warum rauft sich die EU nicht zusammen? Ist das gar der endgültige Beweis, dass dieser Club der 27 am Ende ist und bald zerbricht? In Nizza war es das Ringen um neue EU-Verträge in Erwartung des Beitritts osteuropäischer Staaten nach der Wende. Damals ging es darum, die dann viel größere Gemeinschaft entscheidungsfähig zu halten. Heute zeigt sich ironischerweise, dass das weder in Nizza noch danach wirklich gelang – genau daran hapert es jetzt in dem bitteren Finanzstreit um die Corona-Milliarden und den EU-Haushalt der nächsten sieben Jahre.
"Debatten sind extrem schwierig"
"Die Debatten sind extrem schwierig, weil wir Einstimmigkeit brauchen", sagte der Lette Karins. Jedes der 27 Länder hat dabei ein Vetorecht – und damit Erpressungspotenzial. Und die übliche Binsenweisheit, dass beim Geld die Freundschaft aufhört, gilt bei einem Finanzpaket von unvorstellbaren 1,8 Billionen Euro sozusagen im Turbo. "Alle sind sich im Prinzip einig, aber der Teufel steckt dann im Detail", so Karins. Auch das ist eine Binse. Aber wenn die Süd-Länder rasche Krisenhilfen wollen und die nördlichen Länder Beitragsrabatte und die östlichen Agrarhilfen und die einen unbedingt einen Rechtsstaatsmechanismus und die anderen keinesfalls und all das in einem riesigen Paket gegeneinander verschachert wird – dann wird es kompliziert.
Und dann geht es natürlich um Macht in diesem Bund der 27 kleinen und großen Staaten. Die selbst ernannten "Sparsamen Vier" aus Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande zeigen mit Unterstützung Finnlands, welches Druckpotenzial auch kleinere EU-Staaten aufbauen können, wenn sie sich zusammentun. Sonst machten Deutschland und Frankreich etwas miteinander aus "und alle andern müssen's abnicken", sagte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz.
Dass sie ihre Stellung als starke Nettozahler nicht bereits vorher ausgespielt haben, könnte schlicht und einfach daran liegen, dass sie es bisher nicht mussten. Inhaltlich gesehen kämpfte bislang nämlich Merkel die Kämpfe, die bei diesem Gipfel von den "Sparsamen" ausgetragen werden. So zum Beispiel in der Griechenland-Krise oder bei der Ablehnung von Eurobonds.
EU macht zum ersten Mal im großen Stil Schulden
Die Entscheidung, sich mit Macron zusammen dafür auszusprechen, wegen der Corona-Krise zum ersten Mal im großen Stil als EU Schulden zu machen und diese als nicht zurückzahlbare Zuschüsse umzuverteilen, hat Politiker wie Rutte nach Angaben von Diplomaten völlig überrascht. Unklar ist bis heute, ob Merkel vor der Veröffentlichung des deutsch-französischen Planes im Mai die Abstimmung mit Rutte & Co gesucht hat. Wenn diese sich als wichtige Nettozahler nicht miteinbezogen fühlten, könnte dies jetzt einen großen Teil zu der heftigen Abwehrreaktion beigetragen haben.
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Zum Teil dürfte die harte Haltung Ruttes auch mit der 2021 bevorstehenden Parlamentswahl in den Niederlanden zu tun haben. Seine bürgerlich-liberale VVD steht seit Jahren unter dem starken Druck von Populisten – dasselbe galt aber zumindest bis vor kurzem auch für die CDU von Kanzlerin Merkel.
- Nachrichtenagentur dpa