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Nach Brexit: Treten Dänemark oder Italien als Nächstes aus der EU aus?


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Treten Polen und Italien aus?
Warum Farages Prophezeiung Unfug ist

Eine Analyse von Madeleine Janssen, Brüssel

Aktualisiert am 30.01.2020Lesedauer: 7 Min.
Nigel Farage: Der britische Brexit-Befürworter hält es für möglich, dass weitere Länder dem Beispiel Großbritanniens folgen werden.Vergrößern des Bildes
Nigel Farage: Der britische Brexit-Befürworter hält es für möglich, dass weitere Länder dem Beispiel Großbritanniens folgen werden. (Quelle: dpa)
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Der Chef der Brexit Party, Nigel Farage, sieht Großbritanniens EU-Austritt als Vorbild für andere europäische Staaten. Doch die drei, die er nennt, haben kein echtes Interesse daran, die Gemeinschaft zu verlassen.

Die Abgeordneten der Brexit Party haben am Mittwoch einen unvergleichlichen Triumph erlebt. Seit nicht mal einem Jahr sitzen die 29 Briten im Brüsseler EU-Parlament, mit dem einen Ziel: es zu verlassen. Dieses Ziel haben sie jetzt erreicht. Nigel Farage, Chef der Brexiteers in Brüssel, verglich den am Freitag anstehenden Brexit mit dem Austritt Großbritanniens aus der römisch-katholischen Kirche unter Henry VIII. "So bedeutungsvoll ist diese Woche", sagte Farage.

Wenn es nach ihm geht, bröckelt die EU von nun an weiter. Dänemark , Italien und Polen, sagte Farage bei einer Pressekonferenz am Mittwochmorgen, könnten die nächsten Austrittskandidaten sein. Was ziemlich wahllos zusammengewürfelt klingt, folgt in Farages Welt einer Logik. Und trotzdem ist sie falsch.

Was Großbritannien und Dänemark gemeinsam haben

Fangen wir mit Dänemark an. Farage sagt, Dänemark und Großbritannien hätten viel gemeinsam. Sie seien beide erst mit der zweiten Beitrittswelle 1973 in die EU gekommen. Sie nähmen beide nur teilweise an der EU-weiten Polizei- und Justizarbeit teil. In Dänemark mehren sich in diesem Punkt mit Blick auf internationalen Terrorismus und Kriminalität aber die Stimmen, wonach eine stärkere Zusammenarbeit nötig sei.

Die Dänen hätten sich wie die Briten, so führte Farage ebenfalls aus, stets gegen die Einführung des Euro gewehrt. Davon dürften die Dänen auch nicht abrücken. Immerhin genießen sie die Vorteile eines stabilen Wechselkurses, ohne sich, wie die Euro-Länder, in der Eurokrise an teuren Rettungspaketen beteiligen zu müssen. 2018 hat die EU 1,4 Milliarden Euro nach Dänemark überwiesen. Kopenhagen beteiligte sich umgekehrt mit 2,5 Milliarden Euro am EU-Haushalt.

Dänemark profitiert aber vom EU-Binnenmarkt, von Zollunion und freiem Personen- und Güterverkehr – die bewilligten Ausnahmen will es aber auf keinen Fall aufgeben. Das Modell scheint für die Dänen gut zu funktionieren: Mit 68 Prozent lag die Zustimmung zur Europäischen Union im August 2019 so hoch wie noch nie. Farages These, die Dänen würden alsbald ein Austrittsgesuch stellen, kann man deshalb als Unfug betrachten.

Das zweite Land auf Farages Absprungliste ist Italien. Die Italiener hätten noch immer eine instabile Finanzlage, sagte Farage mit Blick auf die schwere Krise des Landes ab 2007. "Die nächste Bankenkrise kommt bestimmt." Die finanzielle Lage des Landes sei schlimmer als damals. Im April 2007 lag die Staatsverschuldungsquote Italiens bei 103 Prozent. Als die Finanzkrise sich auch auf die Realwirtschaft auswirkte, stürzte Italien in eine schwere Rezession. Tatsache ist: Heute liegt Italiens Staatsverschuldung in absoluten Zahlen höher als in jedem anderen EU-Land. Ende 2019 waren es mehr als 2,4 Billionen Euro, 134,8 Prozent der Wirtschaftsleistung. Nur Griechenland weist eine höhere Staatsverschuldungsquote auf. Zum Vergleich: Deutschland hat gut 2 Billionen Schulden.

Italiens Landwirtschaft profitiert von den EU-Geldern

Italien geht es wirtschaftlich also schlecht. Doch die Frage ist, ob das Land besser dran wäre ohne die Anbindung an die EU. 2017 flossen 9,8 Milliarden Euro an EU-Mitteln nach Italien, davon entfielen über 40 Prozent auf die Landwirtschaft. Italien zahlte 2017 seinerseits 12 Milliarden Euro in den EU-Haushalt ein und erhob im Namen der EU Zölle in Höhe von 2,3 Milliarden Euro, wovon Rom 20 Prozent als Verwaltungsgebühr einbehielt.

Über das Geld wird heftiger gestritten, seit Ende der 2010er-Jahre immer mehr Migranten an Italiens Stränden angekommen sind. Zunächst ignorierte Brüssel das Problem und überließ es der Regierung in Rom, sich damit auseinanderzusetzen. Inzwischen sind zwischen 2015 und 2018 nach Angaben des damaligen EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker 882 Millionen Euro überwiesen worden, um das Land bei der Bewältigung des Flüchtlingsandrangs zu unterstützen. Auch dürfe Italien 18 Milliarden Euro mehr Schulden machen, um besondere Ausgaben leisten zu können.

Doch der Eindruck, die EU habe Italien alleingelassen, scheint sich festgesetzt zu haben. Zu spät hat Brüssel reagiert, hat unterschätzt, welche Auswirkungen dies auch auf das politische Klima haben würde.

2018 gaben nur 30 Prozent der Befragten an, sie hätten das Gefühl, dass ihre Stimme in der EU zähle. Im EU-Durchschnitt sind es 48 Prozent. 52 Prozent der befragten Italiener sehen sich laut Eurobarometer als EU-Bürger und nicht nur als Bürger Italiens. In Dänemark sind es weit über 90 Prozent. 68 Prozent der Befragten in Italien befürworten die Freizügigkeit in der EU, mit der sie unionsweit arbeiten, studieren und Geschäfte machen können. Das ist einer der niedrigsten Werte, den sich Italien übrigens mit Großbritannien teilt – in Litauen sind es dagegen 94 Prozent.

Infolge der Probleme macht Italien Kaskaden des Populismus durch. Was einst mit Silvio Berlusconis Richterbeschimpfungen wegen eines Bestechungsprozesses gegen ihn, mit eitlen Machtspielen und Sex-Abenteuern mit minderjährigen Prostituierten anfing, mündete Jahre später in der rechtspopulistischen Koalition aus 5-Sterne-Bewegung und Lega Nord. Vor allem der damalige Innenminister Matteo Salvini (Lega) machte mit seiner Hetze gegen Migranten und private Seenotretter von sich reden.

Italien schiebt Frust mit der EU, das kann man nicht leugnen. Trotzdem muss man fragen: Würde es dem Land außerhalb der Union besser gehen? Das muss bezweifelt werden. Schließlich kommen über den Struktur- und Regionalfonds Gelder rein, die Italien sonst nicht zur Verfügung hätte. Wäre Italien nicht mehr Teil der EU, nicht einmal als assoziiertes Mitglied, wäre es zwar als Anlandepunkt für Migranten nicht mehr so interessant wie jetzt. Dennoch würden allein aus geografischen Gründen noch immer zahlreiche Asylsuchende vor allem von Nordafrika her Italien ansteuern. Ohne die finanzielle Unterstützung durch die EU könnte sich die Lage schnell zuspitzen, zumal die in Italien lebenden Migranten zunächst bleiben würden.

Hinzu kommt: Die Koalition aus Lega und 5-Sterne-Bewegung wurde mittlerweile abgelöst von einer Zweckspartnerschaft aus 5-Sterne-Bewegung, Sozialdemokraten und Liberalen. Nach Salvinis Abtritt geht es jetzt wieder mehr um Sachpolitik. Dass Rom die EU verlassen könnte, steht derzeit nicht zur Debatte. Auch hier liefert Nigel Farage also eine steile These ohne schlüssige Argumentation.

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Polen identifizieren sich stark mit Europa

Bleibt noch Polen. Dazu hat Farage eine Umfrage aus dem Ärmel gezogen: Die Polen hätten vor drei Wochen zum ersten Mal mit einer Mehrheit angegeben, dass die EU negative Auswirkungen auf ihr Leben habe. Eine Quelle für die Umfrage nannte Farage nicht. Die Zustimmungswerte der Polen für die EU sind ungebrochen hoch. Laut Deutsch-Polnischem Barometer von 2018 identifizieren sich fast drei Viertel der Polen mit Europa, unter den 15- bis 29-Jährigen sind es sogar 83 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland sind es in dieser Altersgruppe gerade mal 59 Prozent.

Finanziell hat die EU in Polen große Spuren hinterlassen, bei der Sanierung alter Bahnhöfe und Gleisanlagen, beim Bau von Autobahnen und Kultureinrichtungen. 2017 zahlte die EU knapp 12 Milliarden Euro an Warschau. Polen entrichtete gut drei Milliarden Euro an die Unions-Kasse. Man könnte also sagen, die EU ist sichtbar im Alltag der Menschen – überall weisen auch Schilder auf die monetäre Beteiligung Brüssels an den Projekten hin.

Aber etwas anderes rückt derzeit in den Vordergrund. Es ist die unheilvolle Umgestaltung des polnischen Staates durch die mit absoluter Mehrheit regierende PiS-Partei. Dabei arbeitet die Partei unter ihrem heimlichen Chef Jaroslaw Kaczynski an mehreren Strängen: Zum einen verschiebt sie aktiv das Geschichts- und Nationalbewusstsein der Polen – durch die Neuschreibung von Schulbüchern, durch das patriotische Zeremoniell von nationalen Gedenktagen und die Gestaltung von Museen zu Themen der polnischen Geschichte. Es geht dabei vielfach um polnische Helden, Menschen, die Opfer gebracht haben für Polen, und die Bedrohung durch äußere Mächte. Als eine solche Bedrohung gilt Russland. Aktuell streiten beide Länder über die Deutung des Zweiten Weltkriegs. PiS-Politiker sprechen seit Jahren von der "historischen Wahrheit". Die Wahrheit, die sie meinen, zimmern sie sich allerdings mit Verve selbst.

Das ist der eine, der "softe" Bereich der Bewusstseinsverschiebung. Achtung: Das zu unterschätzen, wäre fatal. Dazu kommt nun noch die "Hardware", sozusagen als Säule des Ganzen. Als diese dient das umgekrempelte Justizwesen.

Und an dieser Stelle tobt ein Kampf zwischen Brüssel und Warschau. Die PiS-Regierung hat auf clevere Weise verschiedene Stellschrauben gedreht, um linientreue Richter auf wichtige Posten zu hieven. Kritiker sollen an eine neu geschaffene Disziplinarkammer verraten und von ihr abgestraft werden können. Das Kalkül: Die Juristen bleiben länger im Amt, als die Parlamentsmehrheit womöglich besteht. Umkehrbar ist die massenhafte Umbesetzung deshalb nicht so leicht. So sichert die Säule "Justiz" ab, was sich die PiS als Ideal für den polnischen Staat vorstellt.

Die EU-Kommission hat ein Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Polen eingeleitet (ebenso gegen Ungarn). Im schlimmsten Fall droht der Entzug der Stimmrechte. Doch dazu wird es nicht kommen, weil es dazu einer einstimmigen Entscheidung aller Mitgliedsländer bedarf. Brüssel bleiben nicht mehr viele Optionen. Die aussichtsreichste kommt in diesem Jahr zum Tragen: In Kürze verhandeln die EU-Mitglieder über den neuen mehrjährigen Finanzrahmen (MFF). Dabei geht es um die Gelder, die ab 2021 für sieben Jahre in die jeweiligen Länder fließen sollen. Immer lauter rufen diejenigen, die finden: EU-Gelder sollten an rechtsstaatliches Verhalten geknüpft sein.

Auch der Haushalt muss einstimmig verabschiedet werden. Doch nicht nur Ungarn und Polen können sich verweigern – auch Deutschland und andere Staaten können ihr Veto einlegen. Würde der Haushalt nicht rechtzeitig fertig, fielen ab 1. Januar 2021 einige Finanzhilfen für Polen ad hoc weg. Es wäre ein harter Schritt. Und vielleicht Brüssels letzte Hoffnung. Denn wenn man in der EU-Zentrale immer weiter zusieht, wie Polen von Regeln und EuGH-Urteilen unbeeindruckt ist, stärkt dies das Vertrauen der Menschen in Polen in die europäischen Institutionen nicht. Gleichzeitig wäre dies für Warschau ein Signal, weitermachen zu können, ohne echte Strafen zu befürchten. Das Land würde sich endgültig außerhalb des Demokratiehorizonts der EU stellen. Es wäre kein Austritt wie Brexiteer Nigel Farage ihn vermutlich im Sinne hatte, als er am Mittwoch im EU-Parlament davon sprach. Aber er würde Fakten schaffen, die mit der EU nicht mehr viel zu tun hätten.

Verwendete Quellen
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