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Zum journalistischen Leitbild von t-online.CDU-Politiker über Migration "Die derzeitige Situation ist untragbar"
Die Zahl der irregulär einreisenden Migranten steigt in diesem Jahr weiter – und Europa sucht nach Wegen, dem zu begegnen. Der CDU-Europaabgeordnete Caspary fordert einen Kurswechsel der Ampel.
Wie umgehen mit irregulärer Migration? Über eine Antwort auf diese Frage ringt derzeit die deutsche und europäische Politik. Denn die Zahlen derer, die auf irregulären Wegen in die EU einreisen, steigt in diesem Jahr deutlich an. Deutschland verzeichnet einen Anstieg von 75 Prozent im Vergleich zu 2022. Zusätzlich hat das Land im vergangenen Jahr mehr als eine Million ukrainische Geflüchtete aufgenommen – und viele Kommunen ächzen unter der Belastung.
Die EU-Staaten haben sich kürzlich auf eine Reform verständigt, die die Asylpolitik deutlich verschärfen soll. Zudem setzen sie auf mehr Abkommen mit Drittstaaten: Erst kürzlich schloss die EU ein Abkommen mit Tunesien – das Land soll unter anderem mehr Menschen an der Überfahrt nach Europa hindern. Weil es in Tunesien immer wieder zu Menschenrechtsverstößen kommt, kritisierten vor allem Grüne den Deal.
Der CDU-Europaabgeordnete Daniel Caspary meint: "Grüne und SPD haben offensichtlich ein Erkenntnisproblem". Im Interview mit t-online verteidigt er das Abkommen und wirbt für weitere – auch mit Problemstaaten wie Libyen – und sagt, was er von der derzeitigen Migrationspolitik der Bundesregierung hält.
t-online: Herr Caspary, die Reform des europäischen Asylrechts ist in der Ampelregierung umstritten. Was sagen Sie: Ist die EU damit auf dem richtigen Weg?
Daniel Caspary: Ja. Da braucht es nur einen Blick auf die Gemeinden und Kommunen. Landauf, landab geben uns die Bürgermeister sehr deutlich Hinweise, dass die Aufnahmekapazitäten mehr als erschöpft sind. Dann ist klar, dass es einen gewissen Handlungsdruck gibt. Ich kann nicht verstehen, wie sich immer noch Teile der Bundesregierung der Realität in unseren Städten und Gemeinden verweigern.
Ein zentraler Punkt – und das ist ebenfalls umstritten – sind die Abkommen mit Drittstaaten. Die Idee: Dorthin sollen irregulär eingereiste Migranten, wenn diese Drittstaaten sicher sind, schnell und unkompliziert wieder abgeschoben werden können. Halten Sie das für den richtigen Ansatz?
Grundsätzlich ja. Wir müssen aber sicherstellen, dass weiterhin diejenigen, die wirklich Schutz vor Krieg, Unterdrückung, Verfolgung brauchen, diesen in der Europäischen Union auch bekommen. Das heißt im Gegenzug: Diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist und die aus anderen Gründen zu uns kommen, müssen wir zurückführen. Das ist noch eine große Baustelle: Europaweit werden derzeit ungefähr nur ein Drittel aller Ausreisepflichtigen abgeschoben. Um das zu verbessern, müssen wir auch mit den Ländern, in die die Migranten wieder zurückmüssen, entsprechende Abkommen schließen.
Zum Gesprächspartner
Daniel Caspary ist seit 2004 Abgeordneter der CDU im Europäischen Parlament, seit 2017 führt er dort die CDU/CSU-Gruppe als Vorsitzender. Er ist Mitglied im Ausschuss für internationalen Handel und Stellvertreter im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, Menschenrechte, Gemeinsame Sicherheit und Verteidigungspolitik.
Die EU hat gerade erst einen Deal mit Tunesien geschlossen: Das Land soll mehr Migranten an der Überfahrt nach Europa hindern, zudem mehr eigene Staatsbürger zurücknehmen. Der Präsident Saied aber wehrte sich dagegen, auch Menschen zurückzunehmen, die etwa aus Subsahara-Afrika stammen und über Tunesien nach Europa kamen. Bislang zeigt sich kaum ein Staat dazu bereit.
Die Situation, die Sie beschreiben, ist ja im Kern genau die, die wir verhindern wollen. Aus meiner Sicht ist das auch ein Nebenaspekt. Der Hauptaspekt ist doch, dass über Länder wie Tunesien illegale Migranten in die Europäische Union kommen, weil das Land nicht in der Lage ist, das zu unterbinden. Es schwächt auch Tunesien massiv, wenn auf seinem Boden internationale Schlepper und Menschenhändler agieren. Das sorgt für Korruption, untergräbt die staatliche Autorität und gefährdet die Stabilität des Staates. Auch die Tourismusindustrie leidet massiv darunter. Das wiederum verunsichert viele junge Menschen in Tunesien, die nun überlegen, ob sie sich nicht auch in Richtung Europäische Union aufmachen. Und es ist auch für Tunesien nicht gut, wenn im Zweifel genau die gut ausgebildeten jungen Tunesier das Land verlassen.
An dem Deal gab es viel Kritik, unter anderem wegen der Menschenrechtslage in Tunesien. In den vergangenen Wochen gab es immer wieder Berichte, dass die Behörden Migranten einfach in der Wüste ausgesetzt haben.
Wenn die Situation so ist, wie Sie es beschreiben, dann spricht alles dafür, dass wir mit eben solchen Abkommen nordafrikanische Staaten wie Tunesien, Algerien, Marokko dabei unterstützen, ihre Grenzen gegen Schlepper zu schützen und solche Situationen zu verhindern.
Wer aber fliehen muss, dem bleibt oft gar keine andere Möglichkeit, als auf einem gefährlichen Weg nach Europa zu gelangen.
Die jetzige Situation führt dazu, dass nur der, der am meisten Geld zusammenkratzen und damit die Schlepper finanzieren kann, es zu uns schafft. Und das ist meistens nicht die junge Frau mit Baby, sondern der starke Mann. Das ist ein Recht des Stärkeren und hat mit Fairness nichts zu tun. Wir Christdemokraten sind deswegen bereit, über Kontingente nachzudenken. Dass etwa die Vereinten Nationen ganz gezielt Flüchtlinge im Libanon, in Jordanien oder der Türkei auswählen, die dann über Kontingente in die EU umgesiedelt werden. Aber die derzeitige Situation ist untragbar.
Dieses Resettlement-Programm der Vereinten Nationen gibt es ja bereits. Allerdings werden die Kontingente kaum erfüllt von den EU-Mitgliedsstaaten.
Ja, weil wir im Moment die Situation haben, dass sehr viele Migranten illegal zu uns kommen. Gerade deswegen sind ja die Abkommen, wie wir es mit der Türkei und nun auch mit Tunesien haben, so wichtig. Wenn die Zahlen der illegalen Migranten runtergehen, haben wir wieder mehr Spielraum, uns an den offiziellen Programmen zu beteiligen.
Nun sind Schlepper oft schneller als die Politik und passen ihre Routen an. Östlich von Tunesien liegt mit Libyen ein gespaltener Staat, die Machthaber im Osten werden von den EU-Ländern nicht einmal anerkannt. Ist es überhaupt realistisch, ein Abkommen zu schließen?
Klar, das wird schwierig. Aber wir müssen auch mit Libyen sprechen, mit beiden Machthabern. Denn es ist auch nicht in ihrem Interesse, dass dort die Schlepper andere Machtzentren entwickeln, im Zweifel auf Basis illegaler organisierter Kriminalität oder islamistischer Strukturen, die dann dort das Land noch mehr ins Chaos stürzen.
Experten nehmen an, dass die De-facto-Regierung im Osten selbst an den Schleppern verdient und daraus ein Geschäft macht.
Das deckt sich mit meinen Informationen, deswegen müssen wir mit ihnen sprechen. Die Kunst der Außenpolitik ist es ja nicht, Politik auf der grünen Wiese zu machen, sondern sie in den Rahmenbedingungen der Welt, in der wir leben, zu gestalten. Die Machthaber im Osten Libyens haben auch Interessen, bei denen wir als Europäische Union helfen können. Das ist dann ein Geben und Nehmen.
Mit der anerkannten Regierung in Libyen gab es bereits ein solches Abkommen unter der Federführung Italiens. Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen prangern immer wieder die menschenunwürdigen Bedingungen dort an, Geflüchtete berichten von Gewalt, Folter, sexueller Gewalt in Haftlagern. Sollen Menschenrechte also hintangestellt werden?
Nein. Migration ist auch deswegen ein herausforderndes Thema, weil über allem steht, dass wir über Menschen reden und über die Menschenwürde, die zu beachten ist. Wir haben aber in den letzten Jahren erlebt, was passiert, wenn man die Menschenhändler gewähren lässt, wenn man die Migrationsströme nicht unterbindet. Das führte nicht zu einer Lösung des Problems, sondern zu einer Verschärfung. Und wir sind jetzt wirklich in einer Situation, in der die Städte und Gemeinden bei uns in Deutschland massiv überfordert sind. Von daher muss man einen anderen Weg probieren, und ich wünsche mir, dass da auch die politischen Wettbewerber irgendwann ein Einsehen haben. Besonders SPD und Grüne haben da offensichtlich ein Erkenntnisproblem.
Nun kann man das Gegenargument anführen: Würden die Asylbewerber gerecht über Europa verteilt, wären Gemeinden und Kommunen in Deutschland nicht in dem Maße überlastet.
Die Aufnahmebereitschaft in den europäischen Mitgliedsstaaten ist unterschiedlich, das muss man einfach mal zur Kenntnis nehmen. Die Staaten, die in der Frage auf der Bremse stehen, sind vor allem nicht bereit, Anteile von großen Zahlen von illegalen Migranten und Wirtschaftsflüchtlingen aufzunehmen. Ich spüre aber schon, dass es bei einigen Regierungen Bereitschaft gibt, über Kontingentflüchtlinge durchaus zu verhandeln.
Von welchen Staaten sprechen Sie?
Das möchte ich nicht sagen, weil ich kein Interesse habe, die Gespräche dadurch weiter zu belasten.
Ein anderer Teil der Debatte ist, wie man mit ausreisepflichtigen Migranten umgeht. Sie sagten es bereits, im gesamteuropäischen Schnitt wird nur ein Drittel tatsächlich abgeschoben.
Wer mal zu uns gekommen ist, der hat eine relativ große Chance zu bleiben. Das spricht sich natürlich herum. Viele der Menschen, die Schlepperbanden bezahlen, können davon ausgehen, dass sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in der Europäischen Union bleiben können. Deswegen müssen wir sicherstellen, dass nur diejenigen kommen, die tatsächlich Anspruch auf Schutz haben. Und wir müssen konsequenter abschieben. Deutschland hat, Stand jetzt, mit mehr als 30 Ländern Rückführabkommen. Diese zu nutzen, mehr abzuschließen und diese auch auf europäische Ebene zu übertragen, wäre ein guter erster Schritt.
Dennoch funktioniert es auch in Deutschland nicht gut, weder unter der jetzigen Bundesregierung, die ja im Koalitionsvertrag eine Rückführungsoffensive angekündigt hatte, noch unter der zuvor.
Meiner festen Überzeugung nach hat Deutschland auch das Problem, dass die Bundesländer zuständig sind. Ich bin an sich ein überzeugter Freund von unseren dezentralen, föderalen Strukturen. Aber die Frage der Rückführung muss zentral von der Europäischen Union oder der Bundesregierung behandelt werden. Außerdem bräuchten die Entscheidungen von Ausländerbehörden einen einfacheren Rechtsschutz. Eine Prüfung durch eine gerichtliche Instanz halte ich für ausreichend. Derzeit können abgelehnte Asylbewerber sich durch die Instanzen klagen, das kann sich Jahre ziehen. Dieser Schwebezustand ist nicht gut für die Menschen und macht auch ihre Rückkehr ins Heimatland deutlich schwieriger.
Sie sprechen das Problem der sogenannten Kettenduldungen an. Der Weg der Bundesregierung ist ja nun, diesen Menschen mit einem Chancenaufenthaltsrecht die Möglichkeit zu geben, dass sie auf Probe bleiben dürfen. Das halten Sie nicht für sinnvoll?
Die Ampel kapituliert damit vor der Situation. Die Antwort auf das Problem kann doch nicht sein, dass dann am Ende alle bleiben können, die es irgendwie schaffen, sich über einen bestimmten Zeitraum hinweg mit allen Tricks und Mitteln in Deutschland zu halten. Meine feste Überzeugung ist: Wir müssen denen helfen, die unsere Hilfe nötig haben. Wie sagte unser ehemaliger Bundespräsident Joachim Gauck so schön: "Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt". Die Aufgabe des Staates ist nicht, barmherzig zu sein. Der Staat muss vor allem erst einmal gerecht sein. Wenn aber, wie bereits gesagt, vor allem die Starken und Zahlungskräftigen zu uns kommen, dann hat das mit Gerechtigkeit nichts zu tun.
- Telefonisches Interview mit Daniel Caspary am 28. Juli