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Ernährungskrise | "Alle 48 Sekunden verhungert ein Mensch"


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Ernährungskrise
"Alle 48 Sekunden verhungert ein Mensch"

MeinungGastbeitrag von Hans Herren und Lawrence Haddad

26.06.2022Lesedauer: 4 Min.
Frauen warten vor einer Essensausgabe nahe der somalischen Hauptstadt Mogadischu: Sie und ihre Familien sind von akutem Hunger bedroht.Vergrößern des Bildes
Frauen warten vor einer Essensausgabe nahe der somalischen Hauptstadt Mogadischu: Sie und ihre Familien sind von akutem Hunger bedroht. (Quelle: picture alliance/AP Photo | Farah Abdi Warsameh)

Es ist die dritte globale Hungerkrise innerhalb von 15 Jahren. Dass es so weit gekommen ist, haben vor allem reiche Staaten zu verantworten – eine Mahnung an die G7.

Wir leben in einer hungrigen Welt, in der zuletzt 866 Millionen Menschen nicht genügend zu essen hatten. Angesichts der ca. 20 Millionen Tonnen Getreide, die nicht aus der Ukraine exportiert werden können, der weltweiten Proteste aufgrund rasant steigender Lebensmittelpreise und der Warnung des Welternährungsprogramms vor massiven Hungersnöten wächst der Druck auf die G7, eine Lösung für dieses Problem zu finden.

Wir müssen entsetzt und enttäuscht zusehen, wie viele Fehler, die bereits in vergangenen Krisen das Leben unzähliger Menschen zerstört haben, wieder aufs Neue begangen werden. Dies ist die dritte globale Ernährungskrise innerhalb von 15 Jahren.

Lawrence Haddad und Hans Herren erhielten 2018 beziehungsweise 1995 den Welternährungspreis für ihr Engagement im Bereich der Ernährungssicherheit. Haddad leitet die Nichtregierungsorganisation GAIN, die sich dafür einsetzt, die Unterernährung weltweit zu beenden. Herren ist unter anderem Präsident des Millenium Institute, das Regierungen in Fragen der nachhaltigen Ernährung berät.

An diesen Tagen treffen sich die G7-Spitzen in Deutschland. Wenn sie die aktuelle Krise eindämmen und die nächste abwenden wollen, müssen sie unbedingt aus den vergangenen Fehlern lernen.

1. Nicht abwarten, bis es zu spät ist

In der Lebensmittelpreiskrise von 2007 bis 2008 kam die humanitäre Hilfe viel zu spät. Mehr als eine Milliarde Menschen hatte nicht genug zu essen, was in über 40 Ländern zu Aufständen führte.

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Und auch heute reagiert die Welt nur sehr zögerlich. In Äthiopien, Kenia und Somalia verhungert alle 48 Sekunden ein Mensch. Die internationale Gemeinschaft hat aber gerade einmal 2 Prozent der 4,4 Milliarden US-Dollar aufgebracht, die die Vereinten Nationen benötigen würden, um den Hunger in der Region zu bekämpfen. Im Vergleich dazu: Für die Ukraine sind in einem Monat bereits 16 Milliarden US-Dollar zusammengekommen.

Unterdessen geben die ärmsten Länder der Welt immer noch 14 Prozent ihres Einkommens für Zinszahlungen aus – dieses Geld könnte stattdessen zur Stärkung der Landwirtschaft eingesetzt werden oder dafür, gefährdeten Bevölkerungsgruppen Zugang zu Nahrung zu sichern.

2. Risiken besser verteilen

Unser extrem zentralisiertes Ernährungssystem stützt sich auf ein paar Grundnahrungsmittel, die in einer Handvoll von Ländern angebaut werden. Gerade einmal sieben Länder sind für 86 Prozent der Getreideexporte verantwortlich. Wenn einige dieser Superproduzenten von Konflikten oder Klimaereignissen getroffen werden, sind die Auswirkungen rund um den Globus zu spüren.

Die Ernteausfälle in Australien, Russland und der Ukraine aufgrund von Dürren trugen wesentlich zur Ernährungskrise von 2007 bis 2008 bei. Dieses Mal hat ein Krieg zwischen nur zwei Nationen knapp 30 Prozent der weltweiten Getreideexporte in Gefahr gebracht.

Die Länder müssten das Risiko mehr verteilen, also diversifizieren, um solche Schocks zu vermeiden. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten, etwa den lokalen Anbau mit einer größeren Vielfalt von Nutzpflanzen zu unterstützen, Grundnahrungsmitteln aus mehreren Ländern zu importieren oder die Getreidereserven in Zusammenarbeit mit Nachbarländern zu bündeln.

3. Anpassung ist überlebensnotwendig

Dieses Jahr haben extreme Dürren in den USA, Frankreich und Argentinien sowie eine unvorhergesehene Hitzewelle in Indien und heftige Regenfälle in China bereits für Ernteeinbußen und Preissteigerungen gesorgt. Fakt ist: Das Wetter wird in Zukunft immer unberechenbarer und extremer, selbst wenn die Staatengemeinschaft den Anstieg der globalen Temperatur auf 1,5 °C begrenzen kann.

Unsere industrielle Nahrungsmittelherstellung trägt weiter zur Klimakrise bei – sie verursacht ein Drittel der Treibhausgasemissionen, ist jedoch auf die Folgen des Klimawandels denkbar schlecht vorbereitet. Studien zeigen, dass Monokulturen Dürren noch verschlimmern, weil der Boden das Regenwasser schlechter aufnehmen kann. Gleichzeitig sind diese auch anfälliger für Dürren, weil alle Wurzeln das Wasser aus derselben Bodenschicht ziehen.

Es kann daher nur mit Diversität gelingen, die Lebensmittelproduktion unter veränderten Klimabedingungen zu sichern: Verschiedene Pflanzen und Pflanzensorten müssen im Einklang mit der Natur und in Kombination mit Viehzucht, Forst- und Fischereiwirtschaft angebaut werden.

4. Weniger Abhängigkeit vom Energiemarkt

Hohe Energiepreise spielen in jeder globalen Lebensmittelpreiskrise eine Rolle. Die Düngemittelpreise sind seit Anfang 2021 ebenso wie die Energiepreise schrittweise angestiegen. Nun mehren sich die Befürchtungen, dass sich diese Preissteigerungen negativ auf die Ernteerträge auswirken könne, da viele Länder die Vorräte stark rationieren mussten.

Obwohl viele G7-Regierungen erkannt haben, dass die Ausweitung der biologischen Landwirtschaft von zentraler Bedeutung ist, konzentrieren sich die meisten Subventionen nach wie vor auf den Erhalt des Status quo.

Biokraftstoffe treiben einen weiteren Keil zwischen den Nahrungsmittel- und den Energiemarkt. Viele Länder haben die Biokraftstofferzeugung sogar massiv ausgebaut, obwohl die Nutzung von Ackerflächen, um Kraftstoffe und nicht Nahrungsmittel anzubauen, bereits in vergangenen Krisen eine entscheidende Rolle gespielt hat.

5. Systemregulierung

In der Vergangenheit heizten Lebensmittelpreissteigerungen durch Spekulationen mit steigenden Rohstoffpreisen von Hedge-Fonds und Investmentbanken immer wieder an. Die nach wie vor unzureichende Regulierung der Märkte verhindert noch immer nicht, dass Spekulanten denselben Trick noch einmal probieren.

Es gibt zu wenig Kontrolle und Überwachung für die riesigen – und sehr mächtigen – Konzerne, die das Lebensmittelsystem dominieren. Nur vier Unternehmen kontrollieren bis zu 90 Prozent des weltweiten Getreidehandels. Ohne Verpflichtung, ihre Lagerbestände offenzulegen, können diese Firmen ungehindert Getreide horten, während die Preise steigen. Das schafft eine große Unsicherheit und verschärft den globalen Preisanstieg weiter.

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Diese monopolähnliche Situation in Kombination mit der unzulänglichen Regulierung ermöglicht es den Lebensmittelkonzernen auch, die Preise in ihren Lieferketten zu drücken. Das führt zu einem weiteren Problem: Im Falle einer Krise haben weniger große Nahrungsmittelherstellern keine Rücklagen mehr, um Engpässe aufzufangen.

Die G7 können dafür sorgen, dass alle Menschen heute und in Zukunft genug zu essen haben. Sie müssen sich der Herausforderung stellen und die Schwachstellen in unserem Lebensmittelsystem angehen, die immer wieder für Ernährungskrisen sorgen. Wir müssen endlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.

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