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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wenn Kinder ihre Eltern schlagen "Den Hass in den Augen, den will ich nicht mehr sehen"
Gewalt in der Familie geht nicht nur von Erwachsenen aus, sondern auch von Kindern. Nur wenige Eltern reden darüber - zu tief sitzt die Scham über die Probleme gerade dort, wo viele auf eine heile Welt hoffen.
Eigentlich will Martina diese SMS gar nicht mehr lesen. Trotzdem mag sie sie auch nicht löschen. Die Beschimpfungen darin leuchten ihr grell vom Handy-Display entgegen. "Wenn ich das lese, dann wird mir heiß und kalt", sagt die 50-Jährige aus Nordrhein-Westfalen, die ihren wirklichen Namen - wie alle Betroffenen in diesem Bericht - nicht öffentlich machen möchte. Ihr Schmerz über die Angriffe sitzt tief. Denn die gemeinen Botschaften kommen von ihrem 16-jährigen Sohn.
Mit dem Baseball-Schläger auf die Mutter losgegangen
Er wohnt in einem Heim, seitdem er mit einem Baseball-Schläger auf seine Mutter losgegangen war. Aber auch von dort aus lässt er sie nicht in Frieden. Martina zieht die Augenbrauen hoch, als sie sich langsam auf der Couch zurücklehnt und das Handy in den Schoß legt. Ratlosigkeit. Welche Fehler hat sie bloß gemacht?
Über Eltern, die ihre Kinder schlagen oder gar missbrauchen, wird öfter mal berichtet. Aber über Jugendliche und Kinder, die ihre Eltern schlagen, nur selten.
Das sagen Experten
Dabei schätzen Experten, dass in rund zehn bis 16 Prozent der Familien hierzulande Kinder seelische oder körperliche Gewalt gegen ihre Eltern anwenden. Manchmal nur einmal, in anderen Fällen regelmäßig. Dabei geht es nicht um Kleinkinder, die in einer Trotzphase unkontrolliert um sich schlagen, sondern um die Älteren.
Viele Eltern schweigen aus Scham
Die genaue Zahl der Übergriffe ist schwer zu erfassen, denn viele Eltern trauen sich nicht, mit ihrem Problem zu Hilfsstellen oder zum Familientherapeuten zu gehen. Sie schämen sich zu sehr. Denn das Drama passiert genau an dem Ort, wo viele sich Wärme, Zuflucht und eine heile Welt erhoffen. Dass eine Betroffene so offen über die Erfahrungen spricht wie Martina, ist ungewöhnlich.
Schule schwänzen, Drogen nehmen. Martinas Sohn Nedim hatte schon seit längerer Zeit Ärger gemacht. Der 16-Jährige stellte seine eigenen Regeln auf. Bei den vier älteren Geschwistern hätten sie nie Probleme gehabt, erzählen die Eltern. An den Wänden des Wohnzimmers hängen Fotos der Familie aus dem Urlaub und von der Hochzeit der Tochter. Bei Nedim sei der Knacks in der Eltern-Kind-Beziehung immer weiter gewachsen. Die Mutter überwand sich, das Jugendamt einzuschalten. "Drei Anläufe habe ich dafür gebraucht, bis ich hingegangen bin." Sie habe sich lange nicht getraut.
So eskalierte alles
Der Berater der Behörde empfahl ihr, den Jungen sich selbst zu überlassen - ihn fallen zu lassen. "Wir sollten ihm kein Essen und kein Geld mehr geben", berichtet Martina. "Wie soll ich das machen? Er ist doch immer noch mein Kind." Damit er morgens aus dem Bett komme, habe der Jugendamtsvertreter den Eltern empfohlen, dem Sohn ein Glas Wasser ins Gesicht zu kippen.
Die Mutter erinnert sich an den Tag, an dem alles eskalierte: Ihr Sohn war auf Drogen nach Hause gekommen. Was er genommen hat, weiß sie nicht. Ein Helfer von einer Beratungsstelle wartete mit der Familie - sie wollten gemeinsam mit dem Sohn eine Lösung finden. Der Sozialhelfer ging. Der Sohn stand auf, sagte zum Vater: "Verreck doch, du Bastard." Er nahm den Baseball-Schläger und lief auf seine Mutter zu.
"Versagt haben wir beide"
"Ich weiß gar nicht, wo er den hergeholt hat", sagt Martina und schüttelt den Kopf. Aus Angst vor den Ausbrüchen ihres Sohnes hatte sie den Schläger eigentlich versteckt. Vater Emir ging dazwischen. Der Sohn lief weg und wurde einen Tag später von der Polizei aufgegriffen. Seitdem hat Martina Nedim nicht mehr gesehen. Sondern nur die beleidigenden SMS bekommen, die sie nicht löschen kann.
"Vielleicht habe ich versagt bei ihm. Dabei habe ich die anderen davor doch gut erzogen. Bei dem - keine Ahnung, was ich da falsch gemacht habe", sagt Martina. "Versagt haben wir beide", ergänzt der Vater.
Versagen als Mutter oder Vater - die Scham darüber ist groß, gilt die Bindung zwischen Eltern und Kind doch als etwas Ursprüngliches. Wie es zu solchen Krisen kommen kann, ist nicht mit einfachen Schuldzuschreibungen zu klären: "Eltern verursachen nie einseitig das Problem ihrer Kinder", sagt Jugendpsychiater Wilhelm Rotthaus. "Sie schaffen allerdings möglicherweise ungünstige Bedingungen für deren Entwicklung." Bis 2004 leitete Rotthaus die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Viersen in Nordrhein-Westfalen.
So häufig ist das Phänomen Parent Battering
Das sogenannte Parent Battering - übersetzt aus dem Englischen etwa das "Fertigmachen" der Eltern - sei immer häufiger aufgetreten, berichtet Rotthaus. Zahlen dazu seien schwer zu erfassen. "Es gibt eine hohe Dunkelziffer. Aber nach international übereinstimmenden Schätzungen zeigen etwa zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen ein derartiges Verhalten."
Das Bundesamt für Statistik zählte für 2015 in Deutschland rund acht Millionen Familien mit minderjährigen Kindern. Demnach könnte das Problem in die Hunderttausende gehen.
Fachleute verweisen auch auf amerikanische Untersuchungen, wonach geschätzt um die zehn Prozent oder etwas mehr der Eltern Gewalterfahrungen mit dem Nachwuchs machen. Einig sind sich die meisten Experten, dass das Problem nicht auf bestimmte Gruppen begrenzt ist. "Aus meiner Übersicht kann ich sagen, dass dieses Phänomen in allen Gesellschaftsschichten auftritt", erläutert Rotthaus. Die Täter seien bis etwa zum 14. Lebensjahr Söhne und Töchter gleichermaßen. "Im späteren Alter überwiegend die Söhne."
Seelischer Terror zermürbt die Eltern
Vor allem der seelische Terror setze den Eltern zu. "Ich erinnere mich gut an eine Mutter, die sagte: "Dass meine Tochter mich schlägt, das ist nicht schön. Aber mit welcher Verachtung sie mir begegnet, das ist schrecklich"." Die Handlungen verstießen zu sehr gegen die generellen Vorstellungen von Elternschaft und Familie - ein Schock für beide Seiten.
Eine einfache Wenn-Dann-Regel gebe es bei den Fällen aber nicht. Die Umstände, die zu der Situation führen, seien sehr individuell, betont Rotthaus. "Ich glaube, man darf nicht so sehr auf den Jugendlichen isoliert gucken."
"Der Jugendliche wird Chef der Familie"
Hätten die Eltern beispielsweise selbst psychische oder körperliche Probleme, könnte das eine Eskalation fördern - es kommt zu einer Umkehr der Hierarchie. "Die oder der Jugendliche oder das Kind wird Chef der Familie", erläutert Rotthaus. Das Kind sei damit total überfordert. "Gleichzeitig ist die Rolle hochattraktiv, und man gibt sie nicht so leicht auf."
"Meine Mutter war machtlos gegen mich"
Tobias (Name geändert) war auch so ein Familienchef. Der 14-Jährige sitzt in seinem Zimmer in einem Haus für betreutes Wohnen von Jugendlichen in Brandenburg. Die Einrichtung ist karg: ein blaues Bett und ein roter Spind. Auf dem Schreibtisch steht ein Bild: Tobias mit seiner Mutter und der kleinen Schwester. "Wir haben gestritten, ich bin ausgerastet, hatte keinen Bock mehr, auf sie zu hören. Ich habe ihr gesagt, dass sie mir nichts mehr zu sagen hat", erzählt der Berliner. Zugeschlagen habe er aber nie. Nur gedroht. "Meine Mutter war machtlos gegen mich."
Therapie für die Schläger
Seit Anfang des Jahres wohnt er hier mit anderen Jugendlichen. Ihre Geschichten klingen oft ähnlich: falsche Freunde, Drogen, keine Lust auf irgendwas, Ärger mit der Polizei. Bei dem 13-jährigen Marcel (Name geändert) hatte die alleinerziehende Mutter einen neuen Freund, mit dem der Junge aneinander geriet. "Wir haben uns auch geschlagen."
Gefahr durch alte Muster
In der Anlage in dem kleinen Brandenburger Dorf legen die Betreuer einen strengen Tagesablauf fest, fast wie bei der Bundeswehr. Dürfen die Jugendlichen am Wochenende oder in den Ferien nach Hause, fallen sie dann aber oft in alte Muster zurück: Zu falschen Freunden, Drogen und Ärger mit der Polizei.
In der Wohngruppe dagegen müssen die Jungs regelmäßig in die Schule. Ihr Ziel ist der Hauptschulabschluss. In der Freizeit gehen sie angeln, arbeiten im Garten oder gehen auch mal ins Kino. Sie wollen zum Beispiel Berufssoldat, Landschaftsgärtner oder Mechaniker werden.
Was daheim schief ging, können die Teenager gar nicht genau sagen. Zu wenig Regeln? "Also, ich habe schon viel Unsinn gemacht, für den ich keine Bestrafung bekommen habe", sagt Tobias. Aber ganz ohne Konsequenzen sei es nicht gewesen, sonst säße er ja nicht hier. Er erzählt, sein Verhalten gegenüber seiner Mama tue ihm leid. Persönlich habe er ihr das aber noch nie gesagt.
Kein Ausbruch aus dem Frust
Die Kinder und Jugendlichen seien mit der Situation oft genauso unzufrieden wie die Eltern, erläutert Psychologe Rotthaus. "Ich hatte beispielsweise ein Mädchen, das mir immer wieder erzählte, wie sehr sie darunter litt und dass sie das gerne ändern möchte." Als dann die Eltern zur Sitzung hinzukamen, habe das Mädchen Mutter und Vater aber auf die übliche Weise beschimpft und niedergemacht.
Der Ausbruch aus dieser frustrierenden Lage ist schwierig. "Die Eltern denken, dass sie wahrscheinlich die einzigen in ganz Deutschland sind, denen sowas passiert", sagt Rotthaus. Je größer das Problem dann werde, desto mehr schotteten sich viele Eltern nach außen ab. Doch schon die Suche nach Hilfe sei ein wichtiger erster Schritt. Allerdings könne das die Lage auch nochmals zuspitzen. "Denn wenn sich die Eltern durchringen, zu Beratungsstellen zu gehen und die sagen, 'Sie müssen mal Grenzen setzen' und die Eltern das versuchen, dann geht es erst richtig los."
Anonyme Hilfsangebote
Trotzdem sei der Weg nach außen wichtig. Bei Problemen mit Gewalt spiele Geheimhaltung oft eine Rolle, sagt Rotthaus. "Die Aufhebung der Verschwiegenheit und Heimlichkeit ist etwas ungeheuerlich Wirksames."
Erste Hilfe bei Familienproblemen leistet auch Thorsten K. von einem Computer aus. Der 50-Jährige möchte seinen richtigen Namen ebenfalls unter Verschluss halten, da seine Gespräche streng vertraulich sind. Er arbeitet bei der deutschlandweiten Online-Beratung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, kurz BKE. Im Postfach oder per Chat erreichen den Sozialpädagogen pro Woche in der Regel ein oder zwei neue Beratungsfälle. Manche Eltern möchten nicht mehr alleine zu Hause bleiben, weil sie Angst vor den Schlägen des Kindes haben.
Kein Trotzkopfalter sondern völlige Ausweglosigkeit
Der Pädagoge hilft zumindest während der ersten Schritte. Auch Jugendliche wenden sich an ihn. "In vielen Fällen ist das keine zielgerichtete Gewalt, sondern eine Verzweiflungstat", sagt der Berater. Die Jugendlichen und Kinder handelten aus völliger Ausweglosigkeit. Dass damit eine Grenze überschritten werde, sei seiner Meinung auch den verrohtesten Jugendlichen klar. Diese Gewalt sei ernster zu nehmen als das Zuschlagen von Kindern im Trotzkopfalter. "Das ist den Eltern aber bewusst."
Sucht spielt oft eine Rolle
Schreiben Mütter oder Väter der Online-Beratung, sollen sie innerhalb von 48 Stunden eine Antwort bekommen. In vielen Fällen mangelt es, wie Thorsten K. berichtet, an einem: an klaren Regeln. Bei Jugendlichen spiele oft auch Sucht eine Rolle. Nicht nur nach Drogen, sondern beispielsweise auch nach Videospielen. "Wenn die Eltern dann den Stecker ziehen, kann es zu Reaktionen wie bei einem Drogensüchtigen kommen."
Raus aus der Verschwiegenheit
Die Eltern Martina und Emir hatten den Stecker gezogen. Sie sind den wichtigen Schritt raus aus der Verschwiegenheit gegangen. Je mehr die Mutter über ihren Sohn spricht, desto sicherer wirkt sie, auch in ihrer Entscheidung, offen über das Vorgefallene zu reden. Sie möchte Nedim erstmal nicht wieder unter ihrem Dach haben, sagt sie. "Den Hass in den Augen, den will ich nicht mehr sehen." Sie blickt nur immer wieder auf das Telefon. Und kann die SMS nicht löschen.