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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Familie & Beruf Häusliche Gewalt: Gesetz birgt Gefahren für Frauen und Kinder
Unter häuslicher Gewalt gegen Frauen leiden immer auch die Kinder. Diese müssen nach Einschätzung von Fachleuten besser geschützt werden, wenn ihre zerstrittenen oder getrennten Eltern um Sorgerecht und Umgangsrecht kämpfen. Die Familienrechtsreform von 2009 habe die Gefahren für Frauen und ihre Kinder nach einer Trennung deutlich erhöht, kritisierten Vertreterinnen autonomer Frauenhäuser und Juristinnen bei einer Tagung zum Thema "Sicherheit hat Vorrang" in Frankfurt.
Mit ihren vier Kindern ist eine Frau aus Nordrhein-Westfalen vor ihrem gewalttätigen Ehemann in ein Frauenhaus geflüchtet. Nur gut einen Monat später sollen ihre beiden Ältesten - zwei Jungen im Alter von sieben und acht Jahren - vor Gericht auf den Vater treffen, der das Umgangsrecht beantragt hat. "Die Jungen wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, weil der Vater sie geschlagen hat. Die Familienrichterin besteht aber darauf", berichtet Eva Risse von der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) in Bonn.
Warum die Familienrechtsreform Frauen und Kindern schadet
Wie auch andere Fachleute fürchtet Risse, diese Begegnung werde die Kinder erneut traumatisieren. Sie fordert, Frauen und Kinder aus gewalttätigen Familien in Sorgerechts- und Umgangsverfahren besser zu schützen. "Gewalt ändert alles," sagt sie. Und: "Sicherheit muss Vorrang haben." Die Gefahren für Frauen und ihre Kinder nach der Trennung von einem gewalttätigen Mann seien mit der Familienrechtsreform von 2009 aber deutlich gestiegen.
Entscheidung über Umgangsrecht fällt zu früh
Seit der Familienrechtsreform müssten die Eltern spätestens einen Monat nach ihrem Antrag auf Sorgerecht oder Umgangsrecht vor dem Familiengericht gehört werden. Dabei soll möglichst schon eine erste Entscheidung zum Umgangsrecht getroffen werden. Diese Regelung dürfe bei Familien, bei denen häusliche Gewalt im Spiel war, nicht gelten, fordern Eva Risse und die Frankfurter Professorin Sibylla Flügge. Der Zeitpunkt sei viel zu früh für Frauen und Kinder, die gerade aus einer Gewaltsituation geflüchtet sind.
Erneut Gewalt bei Begegnung mit dem Mann
"Die Frauen können oft noch nicht darüber reden, ähnlich wie traumatisierte Flüchtlinge", sagt Flügge. "Darauf nimmt das Verfahrensrecht aber keine Rücksicht." Eine geschlagene und misshandelte Frau müsse sich erst einmal sicher fühlen können. Besonders problematisch sei es auch für die Kinder, deren neuer Schutzraum vor der Gewalt so schnell wieder in Frage gestellt werde.
Vor allem aber drohe neue Gewalt: Rund 70 Prozent der Frauen und 58 Prozent der Kinder würden nach der Trennung von einem gewalttätigen Mann während der Umgangssituation oder bei der Übergabe des Kindes erneut misshandelt und angegriffen - wie Studien belegten. Das Umgangsrecht mit dem gewalttätigen Elternteil - meist dem Vater - müsse zunächst ausgesetzt und die Situation in Ruhe geprüft werden, damit es nicht erneut zu Gewalt komme.
Fast jeden zweiten Tag wird eine Frau vom Partner getötet
Die Zahlen sind erschreckend hoch: Fast jeden zweiten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet, zitieren die Frauen aus der Kriminalstatistik. Das Bundeskriminalamt hat 2011 mehr als 132.000 Opfer von Körperverletzung in Paarbeziehungen oder der Verwandtschaft ermittelt, davon waren mehr als 95.000 weiblich. Rund 20.000 Frauen und fast genauso viele Kinder suchen jedes Jahr Zuflucht in einem der rund 350 Frauenhäuser in Deutschland, so die ZIF.
"Für Kinder ist die Gewalt gegen ihre Mütter wie Gewalt gegen sie selbst", sagte Irmes Schwager von einem Frauenhaus in Kassel. "Kleine Jungs mit zwei Jahren versuchen dann schon ihre Mütter zu schützen."
"Schutz von Frauen und Kindern muss Vorrang haben"
"Der Gesetzgeber weiß, dass misshandelte Kinder psychologisch geschädigt sind und stark gefährdet sind, wieder zu Gewalt zu greifen, Opfer zu werden, oder beides", betont Juristin Flügge. Beim Sorge- und Umgangsrecht werde dies aber nicht ausreichend berücksichtigt. "Der Schutz und die Sicherheit von Frauen und Kindern muss Vorrang vor der Beziehungskontinuität in allen Verfahren haben," sagt Schwager.
Kinder nicht zum Umgang mit gewalttätigen Elternteil zwingen
Für Betroffene, wie für die vierfache Mutter aus NRW, die zu ihrem Schutz anonym bleiben soll, sind die Gerichtsverfahren oft eine enorme Belastung. "Die Mutter muss eine Zwangszusammenführung ihrer Kinder mit dem Vater fürchten", sagt Risse. "Sie wird gezwungen, ihren Kindern gegen ihre innere Überzeugung zu vermitteln: 'Geh zum Vater, das ist gut für dich!'", ergänzt Flügge. Und Jura-Professorin Susanne Nothhafft von der Katholischen Stiftungs-Fachhochschule in München warnt: "Kinder, die man in stark belasteten Beziehungen zum Umgang mit einem Elternteil zwingt, reagieren meist mit dem Abbruch der Beziehung."