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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gesellschaft So kinderfeindlich ist Deutschland wirklich
Deutschlands Bürger werden immer älter, gleichzeitig sinkt die Geburtenrate. Das Gespenst der Vergreisung spukt in unseren Köpfen, trotzdem bekommen wir Deutschen immer später und immer weniger Kinder. Doch ist das ein Wunder? Kinderreiche Familien werden im Bus schräg angeschaut, bekommen nur schwer eine Wohnung und haben weit weniger Geld zur Verfügung als Drei-Kopf-Familien oder gar kinderlose Paare. Von der Betreuungssituation in Deutschland ganz zu schweigen. Die Politik versucht mit Elterngeld und familienfreundlichen Arbeitszeitmodellen die Lust aufs Kind zu vergrößern, doch wirklich bewegen tut sich in den Köpfen der Deutschen wenig. Wie auch, wenn es in Großstädten mittlerweile sogar "kinderfreie" Cafés gibt oder Cafés nur für "wohlerzogene“ Kinder, Hotels mit dem Slogan "nur für Erwachsene“ werben und Mütter sogar aus dem Bus geschmissen werden, weil ihre "Gören" zu laut sind?
"Nur erzogene Kinder erwünscht"
Letztes Jahr erhitzten sich in Berlin die Gemüter, ausgerechnet im kinderreichsten Viertel der Stadt: Ein Gastronom richtete in seinem Café eine kinderfreie Zone ein. Auch in Frankfurt gibt es Streit zwischen Eltern und einem Café-Besitzer. Der hat zwar sein Café noch für Kinder geöffnet, aber nur für "erzogene“, wie ein Schild vor dem Eingang erklärt. Oder der "Windel-Fall“ in Osnabrück: Hier hat ein Busfahrer eine Mutter und ihre einjährige Tochter wegen einer vollen Windel aus dem Bus geschmissen. In Elmsholm wurde eine Mutter mit ihrem Kind aus dem Bus geworfen, weil der Nachwuchs zwei älteren Damen "zu laut“ war. Die Beispiele für eine gewisse Kinderfeindlichkeit in Deutschland sind zahlreich. Für den Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, ist das Berliner Café sogar "eines der Symbole dafür, dass sich Deutschland in eine kinderentwöhnte Gesellschaft entwickelt“.
Kinderreiche Familien am Rand der Gesellschaft
Ein weiteres Problem ist die Wohnungssuche kinderreicher Familien. Oftmals sind Paare mit Hund willkommener als eine Familie mit zwei oder mehr Kindern. Blickt man in Internetforen, gibt es haufenweise Beispiele für den Frust bei der Wohnungssuche. So schreibt eine Userin, dass sie sich vor ihren potenziellen Vermietern rechtfertigen musste, wie es zu so einer "Misere“ denn kommen konnte. Die Wahrnehmung in der Gesellschaft scheint sich gewandelt zu haben. Früher hieß es noch: Kinder bringen Leben ins Haus. Mittlerweile scheint es in den Köpfen nur noch zu heißen: Kinder bringen Dreck und Lärm ins Haus. Manche Eltern mit mehreren Kindern fühlen sich richtig diskriminiert und beschreiben in Foren, dass sie als Asoziale bezeichnet werden.
Die Versorgung unserer Kinder ist gut
Doch so kinderfeindlich ist Deutschland gar nicht, das behauptet zumindest Ellen Hilf, stellvertretende Leiterin der Sozialforschungsstelle Dortmund. Und sie hat gute Argumente, die ihre These untermauern. Beispielsweise hat jedes Kind in Deutschland Anrecht auf kostenlose medizinische Versorgung. Unser Bildungssystem bietet Schülern die Möglichkeit, weiterführende Schulen zu besuchen - ohne Schulgeld bezahlen zu müssen. Als weiteres Beispiel nennt sie die häusliche Erziehung. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern wird weitestgehend auf Gewalt als Erziehungsmittel verzichtet. Doch trotzdem gebe es strukturelle Kinderfeindlichkeit in Deutschland, so Hilf. So sei fast ein Drittel der Kinder heute arm und die Kinderarmut nehme zu. Und das Erwerbssystem sei alles andere als kinderfreundlich: Arbeitslosigkeit, unsichere Beschäftigung und familienunfreundliche Arbeitszeiten machen es jungen Leuten schwer, ihren Kinderwunsch zu realisieren und Familie zu leben.
Familienförderung als Gegentrend
Politiker und Wissenschaftler sind schon seit längerem besorgt über die Entwicklung in Deutschland und versuchen mit Gesetzen und Steuererleichterungen gegenzuhalten. Das neueste Gesetz, dass es Bürgern sehr schwer macht, gegen Kinderlärm zu klagen, ist ein Beispiel dafür. Doch auch die anderen Maßnahmen wie Elterngeld und Krippenausbau haben noch immer nicht zu einem spürbaren Geburtenanstieg in Deutschland geführt. Das belegen die neuesten Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Der Familienbericht über die Förderung und Lebenssituation von Eltern in den 33 wichtigsten Industrienationen zeigt, dass der ersehnte Babyboom in Deutschland bislang ausbleibt - auch wenn die Bundesrepublik im Vergleich zu den anderen Industriestaaten recht viel in ihre Familien investiert. Mit einer Geburtenrate von 1,36 Kindern pro Frau liegt Deutschland um einiges unter dem OECD-Schnitt von 1,74.
Deutsche fürchten Kinderfeindlichkeit
Paradoxerweise fürchten die Deutschen laut aktuellen Studien sogar die Kinderfeindlichkeit und soziale Kälte im eigenen Land. Zu diesem Thema hat die Hamburger BAT Stiftung für Zukunftsfragen bei Repräsentativumfragen in neun Ländern 11.000 Menschen befragt. Herausgekommen ist, dass gerade wir Deutsche vor diesen zwei Entwicklungen am meisten Angst haben, im Gegensatz zu unseren Nachbarn. Im Vergleich zu Frankreich, Schweiz, Finnland, Italien, Großbritannien, Russland, Belgien und Ungarn klagt die deutsche Bevölkerung den Ergebnissen zufolge am meisten über kinderfeindliche Tendenzen und soziale Kälte im eigenen Land. Auf die Frage nach den größten Sorgen, wenn man an die Zukunft seines Landes denkt, gaben 15 Prozent der Ungarn Kinderfeindlichkeit an - aber 40 Prozent der Deutschen. Soziale Kälte fürchteten 24 Prozent der Italiener - und 58 Prozent der Deutschen.
Kinder machen glücklich
Wenn so viele Deutsche Angst vor Kinderfeindlichkeit im Land haben, warum scheint das Problem immer größer zu werden? Jeder kann doch mit seinem Verhalten zeigen, dass er oder sie sich über Kinder freut und sie als wichtigen Bestand unserer Gesellschaft sieht. Doch leider ist die eigene Bequemlichkeit noch immer der Richtungsweiser, obwohl die Vernunft möglicherweise schon etwas anderes sagt. Schließlich ist es wirklich nervig, in einem Café zu sitzen und vor lauter Kindergeschrei sein eigenes Wort nicht zu verstehen. Oder im Bus zu sitzen und sich die Nase zuhalten zu müssen, weil es aus dem Buggy stinkt. Und trotzdem ist es wichtig, dass wir (wieder) lernen, alle Teile unserer Gesellschaft zu akzeptieren oder noch besser zu lieben.