Wenn Kinder sterben "Manche Eltern schreien, andere werfen sich auf den Boden"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Lena Fengler pflegt seit sechs Jahren kranke Kinder und Babys auf der Kinderintensivstation. Mit t-online.de hat sie über das Abschiednehmen gesprochen und wie sie Eltern in dieser schwierigen Zeit hilft.
Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, der Arbeitsplatz von Lena Fengler, verfügt über eine Intensivstation für Früh- und Neugeborene, eine Kinderintensivstation und eine Kinderherzintensivstation. Hier werden zu früh geborenene Babys behandelt und Kinder nach Transplantationen postoperativ versorgt. Aber auch die Therapie von jungen Krebspatienten oder Kindern mit Herzfehlern gehört dazu. Im Interview mit t-online.de erzählt die Kinderkrankenschwester von den Abschiedsritualen, die den Eltern bei ihrer Trauerarbeit helfen sollen.
t-online.de: Frau Fengler, Sie sind Kinderkrankenschwester auf der gesamten Kinderintensivstation und versorgen dort oft schwer kranke Kinder. Leider schafft es nicht jedes von ihnen. Was fühlen Sie, wenn ein Kind, für das Sie, die Ärzte und die Eltern lange gekämpft haben, stirbt?
Lena Fengler: Ich sage immer, die Kinder suchen sich ihren Weg aus und werden ihn auch gehen. Gerade nach einem langen Kampf ist es schwer, wenn Kinder versterben. Manchmal ist es aber auch eine Art Befreiung für die Kinder. Auf der anderen Seite fühle ich mit den Eltern mit, für die das eine extrem schwierige Situation und in keiner Weise erleichternd ist. Betroffenheit beschreibt mein Gefühl da sehr gut.
Wie drückt sich die Betroffenheit bei Ihnen aus?
Ich habe die Eltern oft länger begleitet, betreut und beraten und das Kind gepflegt. Ich baue eine Art Beziehung auf, wahre aber professionelle Distanz. Trotzdem nehme ich die Eltern schon mal in den Arm oder es fließen ein paar Tränen. Ich bin nicht frei von Emotionen, nur weil ich tagtäglich mit diesen Situationen arbeite.
Was sind die zentralen Aufgaben im Arbeitsalltag einer Kinderkrankenschwester?
Ich betreue ein bis drei Kinder zwischen 0 und 18 Jahren. Je nachdem, wie schwer krank die Kinder sind, variiert das. Ich versorge sie zu festen Zeiten oder dem Zustand des Kindes angepasst: dazu gehört das Versorgen, Medikamenteverabreichen, Essengeben, Mit-den-Kindern-Sprechen oder eben eine akute Notfallversorgung – all das sind wichtige alltägliche Aufgaben. Auf der anderen Seite bin ich für die Eltern da. Sie haben viele Fragen und Ängste. Darum ist es wichtig, sie dort abzuholen und zu beraten, wo sie und das Kind gerade stehen. Leider gehört es auf meiner Station auch dazu, dass Kinder versterben. Die zu früh geborenen werden dann zu sogenannten Sternenkindern. Manchmal stirbt wochenlang keines, dann sind es plötzlich zwei oder drei hintereinander.
Was sind Sternenkinder?
Sternenkinder sind Neugeborene, die vor, während oder kurz nach der Geburt sterben. Der Begriff ist verwurzelt in der religiösen Vorstellung, dass verstorbene Kinder in den Himmel kommen. Lange Zeit wurden Neugeborene in Deutschland nur dann in das Geburtenregister eingetragen, wenn sie über 500 Gramm wogen. Ein hessisches Ehepaar erreichte 2013 durch eine Petition an die deutsche Gesetzgebung, dass auch tot geborene Kinder unter 500 Gramm eingetragen werden können. Dadurch erhalten sie eine Sterbeurkunde und können auf dem Friedhof bestattet werden. All das war vorher nicht möglich.
Wie verarbeiten Sie diese Situationen?
Wenn ich privat keine Sorgen habe, ist es für mich tatsächlich leichter. Dann kann ich das Erlebte am Ende des Tages zusammen mit dem Kasack, meiner Arbeitskleidung, im Krankenhaus von mir ablegen. Habe ich aber private Probleme, zum Beispiel eine Trennung, dann fällt es mir schwerer und ich denke zu Hause oft noch über die Erlebnisse nach. Dann spreche ich mit meinen Schwestern darüber – das hilft mir sehr.
Haben Sie ein persönliches Abschiedsritual?
Ich gehe, nachdem die Eltern sich verabschiedet haben und gegangen sind, mit den Ärzten noch einmal zum Kind. Dann wünsche ich ihm innerlich auf seiner Reise alles Gute.
Lena Fengler, Jahrgang 1989, ist ausgebildete Fachgesundheits- und Kinderkrankenpflegerin für Anästhesie und Intensivpflege. Seit sechs Jahren ist sie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf tätig. Ursprünglich kommt sie aus Schleswig-Holstein.
Ihre Aufgabe besteht auch darin, die Eltern bei einem Todesfall in ihrer Trauer aufzufangen, zu unterstützen. Wie gelingt Ihnen das?
Wir haben verschiedene Rituale, um den Eltern das Trauern zu erleichtern. Der Trauerprozess ist lang, er kann aber mit einem möglichst schönen Abschied begonnen werden. Mir ist wichtig, dass die Eltern auch im Nachhinein noch spüren, dass sie nicht allein gelassen wurden und jemand an ihrer Seite war. Stirbt zum Beispiel ein Neugeborenes, legen wir es in ein großes Bett, sodass sich die Eltern dazulegen können. Oder wir geben es den Eltern auf den Arm, damit es nicht allein ist. Viele Eltern finden es schön, ihr Baby noch einmal gemeinsam zu waschen und anzuziehen. Und besonders für religiöse Eltern gibt es noch ein sehr schönes Ritual: Wir stellen uns ans Fenster und lassen die Seele des Kindes fliegen. Sie soll nicht im Krankenhaus bleiben, sondern freigelassen werden und auf Reisen gehen.
Was ist noch wichtig für den Abschied und die Trauerarbeit danach?
Erinnerungen zu haben ist wichtig. Viele Eltern wollen einen Fußabdruck oder eine Haarsträhne von ihrem Kind mitnehmen. Wir haben auch die sogenannten "Strick-Omis". Die älteren Damen häkeln und stricken für unsere kleinen Patienten jeweils zwei Herzen, Blumen oder Schmetterlinge. Davon geht ein Teil mit dem Kind auf die Reise und das andere nehmen die Eltern mit nach Hause. Einige wünschen sich Bilder von ihren Sternenkindern. Häufig können die Eltern sie sich aber noch nicht anschauen. Dann drucke ich die Bilder aus und lege sie in einen Umschlag. Wenn sie so weit sind, können sie ihn öffnen.
Spielt es eine Rolle, ob das Kind unvermittelt stirbt oder ob die Eltern sich über längere Zeit darauf vorbereiten konnten?
Ich erlebe einen Unterschied im Begreifen. Wenn es unvermittelt passiert, können die Eltern nicht fassen, warum das Kind plötzlich gestorben ist. Sie haben dann oft sehr starke Gefühlsausbrüche. Manche Eltern brechen zusammen, andere schreien und werfen sich auf den Fußboden. Das erlebe ich viel seltener, wenn die Eltern sich mental vorbereiten konnten. Natürlich sind auch da alle unglaublich traurig – manche können auch einfach nicht mehr weinen. Gefühle spürt man aber immer deutlich.
Das stelle ich mir nicht leicht vor …
Das stimmt. Aber man ist zum Glück nie allein. Das Team – bestehend aus Ärzten und Pflegern – ist immer im Hintergrund und kommt dazu, wenn es nötig ist. Empathie zeigen, ist eine sehr wichtige Eigenschaft, wenn es um das Thema Abschied und Trauer geht. Man kann nicht einfach sagen "Das wird schon gut werden – irgendwann." Niemand möchte das in so einer Situation hören. Ich zeige den Eltern, dass sie jedes Recht haben, traurig zu sein und dass ich sie verstehen kann.
Was ist außer Empathie noch wichtig, um den Eltern und dem Kind zu helfen?
Die Waage zwischen Einfühlungsvermögen und konsequenter Strenge ist wichtig. Eltern kennen ihre Kinder. Allerdings nicht in dieser Situation. Zum Beispiel haben wir ein sehr instabiles Kind. Wenn die Eltern kommen, wollen sie es anfassen, drücken, mit ihm sprechen. Es ist schwierig, ihnen klarzumachen, dass es nur angeschaut werden darf, da Ruhe das Wichtigste ist. Man muss dann schon selbstsicher auftreten.
War es am Anfang Ihrer Karriere schwieriger, Kinder beim Sterben zu begleiten?
Definitiv. Es war viel emotionaler für mich. Das lag daran, dass ich nicht wusste, was auf mich zukommt. Was ist meine Aufgabe, wie reagieren die Eltern? Mein erster Sterbefall kam nach einem Jahr auf der Station. Es war ein Sternenkind und wird mir wohl immer in Erinnerung bleiben. Mittlerweile – nach sechs Jahren – ist es durch die Erfahrungen leichter geworden.
Ist auch Ihr Umgang mit dem Tod ein anderer geworden?
Ich glaube, dass mein Job den Tod zwar präsenter macht und ich ihn dadurch im Hinterkopf habe, ihn nicht wegschiebe. Aber das Schlüsselerlebnis dazu hatte ich schon mit 18 Jahren, als mein damaliger Freund nur knapp einen Autounfall überlebt hat. Das hat mir gezeigt, wie schnell es gehen kann, auch wenn man nicht damit rechnet.
Haben Sie sich deshalb für diesen Job entschieden?
Eigentlich wollte ich Hebamme werden. Das hat dann leider nicht geklappt, weil es zu viele Bewerber gab. Während meiner Ausbildung zur Kinderkrankenschwester hätte ich nie gedacht, dass die Arbeit auf einer Intensivstation etwas für mich sein könnte. Dann bin ich auf diese Station gekommen und jetzt liebe ich meinen Beruf. Ich bin froh, dass es so gekommen ist.
Frau Fengler, vielen Dank für das Gespräch!