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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Jagoda Marinić im Gespräch "Männer profitieren vom Feminismus"
Für die Schriftstellerin ist #MeToo vor allem eins: ein Gesprächsangebot, von dem auch Männer profitieren können. Im Gespräch mit t-online.de erzählt Jagoda Marinić, wer den Feminismus am meisten braucht.
Einen Gesprächseinstieg für Männer und Frauen: Das soll #MeToo sein. So sieht es die deutsch-kroatische Autorin Jagoda Marinić. Doch sie findet auch: Deutschland verschläft die wichtige Bewegung – und lässt sich von falschen Fragen ablenken. Die Autorin erzählt t-online.de, welche Fragen wir stattdessen stellen sollen und wie ein gleichberechtigtes Leben aussehen kann.
t-online.de: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie lange nichts mit Feminismus anfangen konnten. Warum war das so?
Jagoda Marinić: Mir war lange nicht klar, was es bringen sollte, mich Feministin zu nennen. Wenn man jung ist, merkt man ja gar nicht, welche Dinge im Alltag zu tun haben mit dem eigenen Frausein. Es lag aber auch am Feminismus in Deutschland. Einerseits war der deutsche Feminismus oft ein Gegeneinander mit wenig Solidarität. Andererseits gab es diesen Mädchenfeminismus der Neuen Deutschen Mädchen. Deren Motto schien zu sein: "Wir machen jetzt Feminismus, aber leichter und lockerer als bisher". Für mich war diese Bewegung vor allem harmlos. Es waren zwar alle emanzipiert und Feministinnen. Im Privaten fielen sie aber zurück in klassische Rollenbilder. Dem deutschen Feminismus fehlt die Wucht.
Wie könnte er diese Wucht entwickeln?
Wir diskutieren in Deutschland oft nur auf einer rein sachlichen Ebene. So kriegen wir aber nicht die Aufmerksamkeit der Menschen. Allein durch Statistiken überzeugen wir niemanden. Deshalb finde ich es wichtig, emotionale Aspekte anzusprechen und mit Geschichten zu arbeiten. Denn dann setzt die Empathie ein. Deshalb brauchen wir Archetypen im Kopf, die zeigen, was alles möglich ist im Leben – auch abseits der vermeintlichen Normalität.
Die deutsch-kroatische Autorin Jagoda Marinić hat zahlreiche Essays, Kolumnen und Bücher verfasst. In "SHEROES – Neue Held*innen braucht das Land" setzt sie sich mit Feminismus und #MeToo auseinander.
Welche Rolle spielen dabei Sheroes, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?
Sheroes sind für mich progressive Menschen, die den Mut haben, Grenzen zu sprengen. Sheroes sind mutige Menschen, die andere inspirieren und auch eine Handlungslust in anderen wecken.
Gibt es in Ihrem direkten Umfeld solche Menschen?
Im Privaten spreche ich gerne von "meinen" Frauen: Meiner Großmutter und Mutter. Meine Großmutter, weil sie in Kriegen aufgewachsen ist und fünf Kinder auf die Welt gebracht hat und trotzdem immer so viel Leben um sie herum war – bis ins hohe Alter. Und meine Mutter, weil sie eine dieser Einwanderungspioniere ist. Sie ist so eine Traumheldin, die hier her kam, um sich und uns allen ein besseres Leben zu ermöglichen. Und ich finde das unfassbar mutig, damals, als es noch kein Internet gab und nicht jeder alles wusste, so zu handeln. Und zu sagen: Hier baue ich meiner Familie ein besseres Leben auf. Es gibt aber durchaus auch Männer, die Sheroes sein können. Das finde ich wichtig zu erwähnen.
Sie sprechen in Ihrem Buch auch darüber, dass Sie sich einen Feminismus wünschen, der mit Männern spricht.
Lange war der Feminismus sehr hart gegenüber dem Mann. Das lag auch an der damaligen Zeit: Frauen mussten den Mann um Erlaubnis fragen, wenn sie arbeiten wollten. Vergewaltigungen waren in der Ehe erlaubt. Wenn ich aber auch heute, zwanzig, dreißig Jahre später, nicht mit dem Mann rede und ihm nicht zugestehe, seinen Lernprozess öffentlich zu machen: Wie soll dann eine gesellschaftliche Bewegung entstehen? Es besteht ja ein Abhängigkeitsverhältnis der Geschlechter: Wenn sich Frauen verändern, müssen sich Männer mit verändern. Ich fände es besser, wenn das positiv geschieht, statt gegeneinander.
Sehen Sie deshalb die #MeToo-Debatte als ein Gesprächsangebot zwischen Männern und Frauen?
#MeToo ist kein Kampf Männer gegen Frauen, sondern von Macht gegen Abhängigkeit. Auf Grund unserer ganzen Führungsstruktur sind die Mächtigen aber oft Männer. Für sie ist #MeToo ein guter Moment, darüber nachzudenken, was diese Macht mit ihnen gemacht hat – und auch Verhaltensweisen loszuwerden. So ist #MeToo auch eine Möglichkeit, Arbeitsplätze gesünder zu gestalten.
#MeToo ist seit Ende 2017 stark in den Medien präsent. Sie meinen in Ihrem Buch jedoch: "Deutschland bleibt Zaungast der wichtigsten feministischen Debatte der letzten Jahrzehnte." Inwiefern versäumen wir die #MeToo-Diskussion?
Wir sitzen da und berichten, was in den USA, England und Frankreich passiert. In Deutschland kam Gebhard Henke kurz auf, mit einem Nachklapp, als Charlotte Roche über ihre Erfahrungen gesprochen hat. Statt aber darüber zu sprechen, haben wir angefangen, #MeToo zu zersetzen in Dinge, um die es gar nicht geht. Darf man noch flirten? Fühlt sich der Mann verunsichert? Gibt es noch eine Natürlichkeit zwischen Männern und Frauen? So eine große Bewegung wie in den USA, dass 250 Männer in Führungspositionen ihren Job aufgrund von sexuellem Machtmissbrauch verloren haben, das gab es bei uns nicht. Manche sagen: "Dann geht es uns nicht so schlecht. Wenn es wirklich so schlimm wäre, würde das hier auch passieren." Diesen Argumenten traue ich aber nicht ganz. Ich glaube eher, wir haben so eine Kultur des Schweigens in Deutschland.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Zum einen hat Deutschland begründete Angst davor, Menschen an den Pranger zu stellen und vorzuverurteilen. Aber ich glaube nicht, dass die Leute anderswo leichtfertiger mit Anschuldigungen umgehen. Zum anderen war in den USA ein Teil von #MeToo, dass die Opfer nicht anonym geblieben sind. Im Fall Gebhard Henke hat sich unter anderem Charlotte Roche getraut, ihr Gesicht dafür zu zeigen. Einige andere Frauen haben ähnliche Erfahrungen geschildert, wollten aber nicht an die Öffentlichkeit gehen. Was ich heftig fand, wovon aber wenig erzählt wird: Es gab einen Brief von 20 Schauspielerinnen, darunter auch Iris Berben, als Reaktion auf Charlotte Roche. In dem Schreiben sagten diese 20 Frauen: "Wir haben nur gute Erfahrungen mit ihm gemacht." Was ja nichts darüber aussagt, wie Henke zu den anderen Frauen war. Da ging also eine Frau in die Öffentlichkeit mit ihren Anschuldigungen und sie verliert die Solidarität von anderen Frauen.
Würden Sie Frauen angesichts solcher Reaktionen in Deutschland raten, mit Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen?
Ich würde keiner Frau dazu raten. Bei #MeToo geht es auch nicht darum, dass jemand bevormundend sagt: Tue dies und jenes. Ich kann nur sagen: Ich bewundere Frauen, die es schaffen, weil ich sehe, welche Konsequenzen auf sie zukommen. Eine Frau muss viel auf sich nehmen und es ist wichtig, sie zu stärken. Wir brauchen eine andere Opferkultur. Heute drehen wir das oft um und sagen: Die Frau ruiniert den Mann. Aber wenn wir uns zum Beispiel den Fall von Kavanaugh und Blasey-Ford in den USA anschauen, sehen wir: Der beschuldigte Mann ist heute Richter am Obersten Gerichtshof. Die Frau ist mehrfach wegen Morddrohungen umgezogen.
Erwarten wir zu viel von Opfern?
Wir erwarten manchmal zu viel von den Menschen. Viele sprechen davon, dass es an der Frau ist, zu reagieren und sich zu wehren in übergriffigen Situationen. Es liegt aber in der Natur der Gewalt, dass sie einen überwältigen kann. Das sollten wir Opfern auch zugestehen.
Sexismus ist strukturell. Gibt es etwas, was doch jeder dagegen tun kann?
Ich plädiere dafür, dass wir miteinander reden. Wir brauchen Privatgespräche über das Thema: Wie bin ich Frau? Wie bin ich Mann? In meinem Buch habe ich 50 Fragen aufgeschrieben, die als Gesprächseinstieg dienen können, als ausgestreckte Hand. Mit Gesprächen können wir uns aus alten Klischees befreien.
Was für Klischees meinen Sie?
Wenn jemand durchsetzungsstark ist, ist er männlich. Wenn jemand sensibel ist, ist er weiblich. Wir müssen aber alle alles werden: sensibel und durchsetzungsstark. Nur so werden wir ganze Menschen. Auch eine gleichberechtigte Beziehung funktioniert nur, wenn Männer Stärke lieben – Frauen aber auch die Schwäche ihres Partners zulassen.
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Sollten wir deshalb alle Feministen sein?
Ja. Auch Männer profitieren vom Feminismus. Eine Gesellschaft, in der sich alle einbringen können, wird immer als Ganzes gestärkt. Und die Männer, die Angst davor haben, ihre Privilegien zu verlieren, brauchen den Feminismus am meisten. Sie fühlen sich nämlich oft sehr eingeschränkt von den starren Rollenbildern. Man muss ja nicht in einer Zwangsjacke aus alten Rollenbildern durch sein Leben gehen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Marinić.