ARD-Doku zeigt Prügelstrafe als Erziehungsmaßnahme "Wer seine Rute schonet, der hasset seinen Sohn"
Seit dem Jahr 2000 ist das Prügeln von Kindern in Deutschland verboten. Doch was für viele heute selbstverständlich ist, war vor einigen Jahrzehnten eher die Ausnahme. Körperliche Bestrafung stand bis in die 60er Jahre für einen Großteil der Kinder an der Tagesordnung. Bei vielen Betroffenen wirken diese Erfahrungen bis heute nach - wie bei Tilman, Helga und Lutz. In der Dokumentation "Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie" aus der ARD-Reihe "Geschichte im Ersten" erzählen sie von ihrer Kindheit, die geprägt war durch die Schläge ihrer Eltern.
Der Kochlöffel, der Rohrstock, der Teppichklopfer oder die Reitpeitsche - häufig wurden in der Nachkriegszeit diese Utensilien von Eltern als Erziehungsmittel gegen ihren Nachwuchs eingesetzt. Das war normal in den Jahren des Wirtschaftwunders - ein flächendeckendes Phänomen über alle sozialen Schichten hinweg.
"Wer seine Rute schonet, der hasset seinen Sohn"
Das musste auch Schriftsteller Tilman Röhrig (Jahrgang 1946) spüren. In der ARD-Doku erzählt er: "Als ich an einem Tag nach Hause kam, sagte meine Stiefmutter: 'Heute bekommst du Prügel.' Ich fragte: 'Warum?' Ich hätte doch gar nichts getan. 'Weil du nicht über die Stränge schlagen sollst!'" Für gewöhnlich war es jedoch sein Vater, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Tilman zu züchtigen. Rechtfertigung für seine Prügel fand der evangelische Pfarrer im Alten Testament, schließlich heißt es dort: "Wer seine Rute schonet, der hasset seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtiget ihn bald.“
Warum der Vater ihn wirklich so oft mit der Reitpeitsche blutig schlug, ist Tilman bis heute ein Rätsel. Meistens sagte der Vater dabei, dass es ihm selbst weh täte. Vielleicht lag sein Motiv also in einer Art Leidenslust, fragt sich Tilman heute. Doch er glaubt, dass es vor allem "die Lust zu brechen" war, die seinen Vater zu so viel Brutalität bewegte.
Erst als Tilman im Teenageralter seinem Vater drohte, in seiner Kirche Selbstmord zu begehen und seinem Vater auf einem Abschiedsbrief die Schuld dafür zu geben, ließ der von ihm ab. Das war das Ende der Beziehung.
Helga hatte in ihrer Kindheit das Weinen verlernt
Genauso wie bei Tilman schauten auch bei Helga G. (Jahrgang 1940) die Nachbarn und Verwandten weg, wenn ihre Eltern oder ihr Onkel zuschlugen. Helga wuchs im Saarland in einer Familie von Nationalsozialisten auf. Der Onkel, ein ehemaliger SS-Mann, ließ regelmäßig alle Kinder zur Züchtigung antreten. Die Kinder waren ein "Geschenk für Hitler" und getreu dem Motto "flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl" mussten sie geformt werden.
Helga berichtet, wie ihr vom Vater einmal die Hände auf einen Holzklotz gelegt wurden und man ihr drohte, sie abzuhacken, wenn sie lüge, während die ganze Verwandtschaft umher lief. Helga sagt über diese Zeit: "Ich hätte gerne geweint, aber konnte es nicht. Ich war wohl eine Zeitlang innerlich abgestorben."
Lutz' Mutter prügelte sich förmlich "in Trance"
Auch Lutz Stiller (Jahrgang 1959) musste in seiner Kindheit und Jugend Schläge einstecken. Einigen Lehrern an seiner Schule saß die Hand recht locker und zu Hause litt er unter den Wut- und Prügelattacken seiner überforderten Mutter, die ihre vier Kinder in Leipzig allein großzog.
Im Film schildert Lutz, wie er als Jugendlicher einst von seiner Mutter beim Onanieren erwischt wurde. Wie von Sinnen schlug sie daraufhin brutal auf seine Geschlechtsteile ein. Immer wieder hätte sich seine Mutter mit dem Teppichklopfer "richtig in Trance geklopft".
Ein Buch brachte das totgeschwiegene Thema an die Oberfläche
Die Autorin und Journalistin Ingrid Müller-Münch teilt ein ähnliches Schicksal. Als junges Mädchen wurde sie oft mit dem Kochlöffel verprügelt. Später verfasste sie das Buch "Die geprügelte Generation", das der ARD-Doku als Grundlage diente und Ende 2012 das Schweigen über ein bedrückendes Thema brach: die systematische körperliche Bestrafung als Erziehungsmittel, deren Opfer unzählige Kinder früherer Jahrgänge wurden - wie auch Tilman, Helga und Lutz.
Es war eine "selbstverständliche Verschwiegenheit", erklärt Müller-Münch nach dem Erscheinen von "Die geprügelte Generation" gegenüber T-Online: "Ich habe mit dem Buch eine Lawine losgetreten und offenbar auch eine Blockade bei vielen gelöst, die nun das befreiende Gefühl spüren, nicht allein gewesen zu sein und endlich darüber reden zu können."
Die quälende Frage: Was waren die Motive der Eltern?
Die Autorin hatte mit ihrer Veröffentlichung jedoch nicht vor, die damalige Elterngeneration an den Pranger zu stellen. Es sei ein Versuch des Verstehens, welche Motive damals hinter dem Verhalten der Eltern steckten. Eine Frage, die sich auch Tilman Röhrig immer wieder stellt.
Müller-Münch sagt: "Immerhin war es die traumatisierte Generation, die das totalitäre NS-Regime und den Krieg miterlebt hatte. Und während des Wiederaufbaus waren sie vor allem mit sich selbst beschäftigt. Da war es schwierig, Kinder großzuziehen. Die hatten sich vor allem zu benehmen und sollten konform sein."
Die Eltern haben es nicht besser gewusst
Zu diesen Lebensgrundsätzen gehörte, damals wie auch die Jahrhunderte zuvor, die Züchtigung von Kindern als legitimes Erziehungsmittel. Eines der auflagenstärksten Standardwerke der Zeit, das solche pädagogischen Maßnahmen befürwortete, war das Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" von Johanna Harrer. Bis in die 80er Jahre wurde es - nur unter einem anderen Titel - herausgegeben. Darin wurde Eltern unter anderem empfohlen, ihre Babys schreien zu lassen und sie auf keinen Fall mit zu viel Liebe und Zärtlichkeit zu verwöhnen.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Eltern in den Nachkriegsjahren nicht erkannt haben, was sie ihren Kindern mit all der Gewalt angetan haben. "Sie haben es nicht besser gewusst", kommentiert Müller-Münch. "Auch heute empfinden die Mütter und Väter von damals meist kein Bedauern oder Scham über ihr Handeln. 'Das war die Zeit' oder 'das war eben damals so' wird dann als Erklärung vorgebracht."
Jede Tracht Prügel nimmt ein Stück kindlicher Würde
Die Wunden, die durch die gewalttätige Erziehung gerissen wurden, seien tief und belasteten bis heute das Leben vieler aus der "geprügelten Generation", weiß Müller-Münch aus Interviews mit Betroffenen: "Bei jedem Prügeln, bei jedem Niedermachen, verlor das Kind ein Stück seiner Würde und hatte zugleich das beschämende Gefühl, selbst schuld an den Schlägen zu sein. Ich muss was falsch gemacht haben, so seine Erklärung, sonst würden mich meine Eltern ja nicht verprügeln."
Befreiungsschlag der "68er"
Das Ende dieser eisernen Pädagogik kam mit den "68ern": Deren Kinder tummelten sich in Kinderläden, sollten nun alles dürfen und genossen die antiautoritäre Erziehung.
Trotz der gesellschaftlichen Umwälzungen der letzen Jahrzehnte, dauerte es lange, bis die Politik nachzog. Erst im Jahr 2000 formulierte der Bundestag: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." Deutschland zählt damit zu den 16 Ländern weltweit, die ein solches Gesetz haben.
Elterliche Gewalt gegen Kinder gibt es nach wie vor
Ungeachtet dieser rechtlichen Grundlagen ist es aber auch heute keine Selbstverständlichkeit, dass Kinder gewaltfrei erzogen werden. Nach wie vor sind nicht wenige Mütter und Väter der Überzeugung, dass ab und an eine Ohrfeige oder eine Klaps auf den Po ein angemessenes pädagogisches Mittel sei. Das ergab vor zwei Jahren eine Forsa-Studie, in der sich 40 Prozent der befragten Eltern so äußerten. Der Kinderschutzbund Deutschland schätzt zudem, dass drei Kinder pro Woche an den Folgen von Misshandlung sterben.
Eine Kindheit, wie sie vor vielen Jahrzehnten Tilman, Helga und Lutz erlebten, ist heutzutage in Deutschland nicht mehr Normalität. "Geschichte" sind solche Schicksale allerdings noch längst nicht.
ARD-Mediathek "Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie"