Brüder und Schwestern Gibt es den optimalen Altersabstand zwischen Geschwistern?
Viele Entwicklungspsychologen sind der Ansicht, der perfekte Altersabstand zwischen Geschwistern liege bei drei Jahren. Daran halten sich die Deutschen auch. Im Durchschnitt kommt das zweite Kind 3,3 Jahre nach dem ersten. Doch beruflich und gesellschaftlich bedingt werden immer öfter andere Altersabstände geplant.
Bei ihrem ersten Kind sind Mütter heute durchschnittlich Anfang dreißig. Der Anteil der über Vierzigjährigen steigt dabei seit vier Jahrzehnten kontinuierlich an. Kein Wunder, dass eine Frau in Deutschland durchschnittlich lediglich 1,59 Kinder (im Jahr 2018) bekommt. Wer über vierzig zwei oder mehr Kinder möchte, der muss sich nämlich beeilen. Häufig klappt es dann nicht mehr und das hat Folgen für die Institution Familie.
Kollektiver Verlust von Geschwistern
Der Berliner Psychoanalytiker Horst Petri kritisiert diese Entwicklung. In seinem Buch "Geschwister – Liebe und Rivalität" beklagt er, dass dieser "kollektive Verlust von Geschwistern das Ende einer Kultur" einläute. In erster Linie einer Streitkultur. Denn Streit und Eifersucht lassen sich in keiner Alterskonstellation vermeiden.
Dabei erfüllen sie einen wichtigen Sinn. Die lästige Zankerei hilft dabei, wichtige soziale Fähigkeiten einzuüben und ein Gefühl für Gerechtigkeit zu entwickeln. Je näher die Kinder beieinander sind, desto mehr wird ihrerseits darauf geachtet, dass sie auch ja nicht zu kurz kommen. Und desto größer ist auch die Aufgabe der Eltern, beiden Kindern im wahrsten Sinne des Wortes gerecht zu werden.
Es spricht viel für einen geringen Altersabstand
Die Geburtenabstände werden in Deutschland erst seit 2009 wirklich nachgewiesen. Trends lassen sich also noch nicht ausmachen, aber Tendenzen. Wie die zu einem geringen Altersabstand. Zwar werden nur 0,6 Prozent aller Kinder vor dem ersten Geburtstag des Kronprinzen beziehungsweise der Kronprinzessin geboren. Aber immerhin 17,7 Prozent bis zu deren zweiten Geburtstag.
"Meine Kinder wachsen gemeinsam auf"
Michaelas Kinder sind vier und fünf Jahre alt. Für sie liegen die Vorteile auf der Hand: "Meine Kinder wachsen gemeinsam auf, haben ähnliche Entwicklungsschritte und altersentsprechend auch gleiche Interessen. Sie spielen viel miteinander", meint die gelernte Bankkauffrau. "Wenn ich da andere Familien sehe, wie die immer wieder versuchen, alles unter einen Hut zu bekommen, weil die Älteren dies wollen oder nicht mehr wollen und die Kleinen das brauchen – diese Probleme haben wir nicht. Ich stelle es mir auch später einfacher vor, zum Beispiel in der Pubertät."
Doch es könnte sein, dass sie zu optimistisch ist, warnt der Geschwisterforscher Hartmut Kasten. Es kommt besonders häufig zu Konflikten zwischen Geschwistern, wenn sie altersmäßig sehr nah beieinander sind: Sie stehen in starker Konkurrenz zueinander und streiten oft um die Aufmerksamkeit und Zuwendung ihrer Eltern – und um Freiraum. Denn viele unter ihnen leiden in ihrer Jugendzeit unter der entstandenen Symbiose. Vor allem, wenn sie gleichgeschlechtlich sind.
Altersabstand beeinflusst laut Studie jüngere Geschwister
Laut einer britischen Studie von 2017 beeinflusst der Altersabstand von Geschwistern vor allem die Persönlichkeit der zweitgeborenen Kinder. Demnach wirkt sich der Einfluss umso negativer aus, je mehr Jahre zwischen der Geburt zweier Kinder liegen. Im Erwachsenenalter zeigten die Zweitgeborenen höhere Werte bei den Eigenschaften "Neurotizismus" und "desorganisiertes Verhalten", heißt es in der Zeitschrift "Psychologie Heute" (Ausgabe September 2017). Außerdem waren die Befragten umso introvertierter, je größer der Abstand zum älteren Geschwisterkind war.
Bei etwas geringeren Altersabständen von zwei bis vier Jahren fiel den Forschern auf, dass die Jüngeren ein geringeres Selbstwertgefühl hatten und sich häufiger antisozial verhielten. Diese Unterschiede wirkten sich aber nicht auf den Bildungserfolg oder die berufliche Laufbahn der Jüngeren aus.
Die Forscher nutzten für die Studie Daten aus einer britischen Studie, für die 17.000 Kinder mehrfach befragt wurden, die alle im April 1970 geboren worden sind. Um die Auswirkungen des Altersabstandes zu untersuchen, wählten die Forscher 4.114 jüngere Geschwister aus Familien mit zwei Kindern aus.
Nach einem Kaiserschnitt sollte man sich etwas Zeit lassen
Aber geringe Abstände zwischen Geschwistern haben auch ihre negativen Seiten. Laut einem amerikanischen Vergleich von rund 70 Studien zum Thema gibt es Hinweise darauf, dass bei zu kurzem Abstand die Frühgeburtenrate erhöht und das Kindsgewicht verringert sein könnte. "Das kann ich so nicht bestätigen", sagt Mutter Michaela und schmunzelt. "Ich habe meine Kinder im Abstand von 14 Monaten bekommen. Als ich den frischgeborenen Leo im Arm hielt, habe ich gedacht, er sieht aus wie Nils mit sechs Wochen. Ich glaube, mein Bauchgewebe war einfach schon mal perfekt vorgedehnt, hat richtig Platz zum Wachsen geboten."
Wissenschaftler des amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) haben in einer Studie herausgefunden, dass eine schnelle zweite Schwangerschaft das Risiko für Autismus bei Neugeborenen erhöht. Demnach sei dies um 50 Prozent erhöht, wenn die zweite Schwangerschaft schneller als 18 Monate nach der ersten folgt. Ein zu großer Abstand ist der Untersuchung zufolge aber auch nicht gut: Auch eine zweite Schwangerschaft, die mehr als vier Jahre später erfolgt, bringe diesen Effekt mit sich.
Eine Nachfrage bei der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hat ergeben, dass hierzulande Frauenärzte einen Mindest-Altersabstand von zwölf Monaten empfehlen, denn nur so könnten auch die Nährstoffspeicher wieder komplett aufgefüllt werden. Trotzdem lässt man durchklingen, dass der Körper, sobald er wieder schwanger werden kann, auch in der Lage ist, das Kind auszutragen. Aus medizinischen Gründen spricht also hierzulande nichts dagegen, Kinder mit geringem Altersabstand zu bekommen.
Die Nesthäkchen sind auf dem Vormarsch
Eine ganz besondere und heute aufgrund der wachsenden Zahl von Patchworkfamilien immer häufigere Konstellation sind Nachzügler. "Für unsere Tochter war ihr acht Jahre jüngerer Bruder wie eine lebendige Puppe. Sie hat ihn dauernd herumgeschleppt. Sie hat sehr verantwortungsvoll geholfen bei der Säuglingspflege", erinnert sich Jürgen.
Die für die Eltern hier am schwierigsten zu meisternde Aufgabe ist es, die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse unter einen Hut zu bekommen. Das betrifft den Alltag, zum Beispiel dann, wenn das ältere Kind nachmittags Hilfe bei den Hausaufgaben braucht und das Kleine lautstark Aufmerksamkeit einfordert. Das betrifft aber auch die Wochenend- und Ferienplanung. Denn was für das kleinere Geschwister genau das richtige wäre, langweilt die Großen, und andersherum.
Die Autorin Susann Sitzler hat die Erkenntnisse der Geschwisterforschung in ihrem Buch "Geschwister – die längste Beziehung der Welt" zusammengefasst und kommt zu dem Schluss: "Erst wenn der Abstand zwischen zwei nacheinander folgenden Kindern mindestens fünf Jahre beträgt, sinkt der Druck, sich ständig aneinander messen zu müssen. Gleichzeitig ist die Beziehung dann auch weniger eng."
Ein großer Altersabstand hat auch seine Vorteile
Andererseits kann man gerade bei Kindern mit großem Altersabstand häufig etwas ganz Besonderes beobachten. So wie bei dem 14-jährigen Leo und seiner dreijährigen Schwester Luzy. "Manchmal denke ich, er lebt mit Luzy noch mal etwas aus, was ihm sonst seine Coolness verbieten würde. Für Luzy ist er der Tollste. Wenn er sie mal aus dem Kindergarten abholt, dann strahlt sie vor Stolz. Bei ihm fühlt sie sich sicher und geborgen. Von ihm kann sie spannende Dinge lernen, die es sonst hier nicht gäbe", sagt Mutter Astrid. Den größten Vorteil am Nachzügler sieht sie darin, dass man entspannter ist: "Luzy ist unser aller Genießerkind. Bei ihr sehen wir alles viel lockerer als bei ihren großen Brüdern damals."
Die Geschwisterbeziehung wird von vielen Faktoren bestimmt
Letztendlich ist es egal, welchen Altersabstand man selbst oder das Leben für einen wählt, die optimale Konstellation gibt es nicht. Dazu ist die Geschwisterbeziehung zu sehr abhängig von anderen Faktoren, so Psychoanalytiker Horst Petri. "Es ist die Einheit biologischer, seelischer und sozialer Zusammengehörigkeit, die sich von jeder anderen Beziehung unterscheidet". Und sie dadurch zu etwas Besonderem macht.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.