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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Debatte um vierte Impfung Immunologe kontert: Herr Lauterbach hat unrecht
Sollten sich angesichts steigender Corona-Zahlen alle eine vierte Impfung holen? Der Gesundheitsminister ruft dazu auf. Doch für wen ist sie wirklich nötig?
Zum Nutzen einer vierten Corona-Impfung gibt es weiterhin Unsicherheit – und widersprüchliche Empfehlungen. Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt den vierten Anti-Corona-Piks derzeit Menschen über 70 Jahre, Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen, Pflegepersonal sowie Personen mit Immunschwächekrankheiten. Bei Letzteren gilt die Empfehlung bereits ab einem Alter von fünf Jahren.
In den USA ist der zweite Booster für Menschen ab 50 Jahren zugelassen. Die EU-Gesundheitsbehörde ECDC und die Europäische Arzneimittel-Agentur (Ema) sprachen sich vor Kurzem für eine vierte Impfung ab 60 Jahren aus.
Dieser Empfehlung schloss sich bislang auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) an. Am vergangenen Freitag sorgte er jedoch für Verwirrung, als er in einem "Spiegel"-Interview auch Jüngeren zum zweiten Booster riet:
"Wenn jemand den Sommer genießen und kein Risiko eingehen will zu erkranken, dann würde ich in Absprache mit dem Hausarzt auch Jüngeren" die vierte Impfung empfehlen. "Dann hat man einfach eine ganz andere Sicherheit." Das Risiko, an Long Covid zu erkranken, sei durch die vierte Impfung ebenso wie das Infektionsrisiko für ein paar Monate deutlich reduziert, so Lauterbach.
Wer also braucht nun den vierten Piks und wer nicht? Im Gespräch mit t-online gibt der Immunologe Andreas Radbruch seine Einschätzung.
t-online: Herr Radbruch, hat Karl Lauterbach recht und wir sollten uns jetzt alle wieder einen Impftermin holen?
Andreas Radbruch: Nein, Herr Lauterbach hat leider nicht recht. Für jüngere Menschen – also unter 60 bis 70 Jahre – und solche, die keiner Risikogruppe angehören, bietet die vierte Impfung kaum Vorteile. Schon nach drei Impfungen liegt der individuelle Immunschutz bei 94 Prozent. Schwere Krankheitsverläufe werden so also bestmöglich verhindert.
Aber erhöht die vierte Impfung vielleicht den Schutz vor der Infektion? Denn das ist ja der Knackpunkt der bisher zugelassenen Impfstoffe, dass sie die Infektion zumindest mit den Omikron-Varianten nicht wirklich verhindern ...
Nein, auch hier bringt der zweite Booster kaum Vorteile. Nur sehr kurzfristig steigt der Antikörpertiter (Anm. d. Red.: die Anzahl der Antikörper im Blut), doch der Schutz vor der Infektion beträgt auch dann nur zwischen 10 und 30 Prozent. Er wird also durch die vierte Impfung nicht wesentlich erhöht. Man wird sich also ungefähr genauso häufig anstecken, als wenn man nur zwei- oder dreimal geimpft wäre.
Dr. Andreas Radbruch ist Immunologe und Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums Berlin. Er berät u. a. auch den Gesundheitsausschuss des Bundestages.
Was ist das Problem mit den Impfstoffen, dass sie die Infektion nicht verhindern können?
Sie erzeugen keine Immunität auf den Schleimhäuten, dort, wo das Virus in den Körper eindringt. Gemessen werden immer die Werte neutralisierender Antikörper im Blut, doch dort sind sie eigentlich zweitrangig. Denn im Blut schützen uns alle Antikörper gegen das Virus, nicht nur die neutralisierenden.
Um die Infektion, also das Eindringen des Virus in den Körper, zu verhindern, brauchen wir neutralisierende Antikörper auf den Schleimhäuten. Und dort müssen sie erst einmal hintransportiert werden, ein komplizierter Vorgang. Der Antikörperschutz auf den Schleimhäuten, der das Virus abfangen soll, lässt nach jeder Impfung recht schnell nach, obwohl wir die Antikörper noch im Blut haben. Wir wissen nicht genau, warum das so ist.
Warum rät Karl Lauterbach zur vierten Impfung für alle? Er kennt doch diese Studienergebnisse sicher alle auch ...
Das müssen Sie ihn fragen. Ich weiß nicht, durch wen er beraten wird. Klar ist aber: Aus immunologischer Sicht bringt die vierte Impfung für das Gros der Bevölkerung keine Vorteile.
Nun hat sich auch der Stiko-Chef Thomas Mertens in der Diskussion zu Wort gemeldet mit dem Satz: "Ich halte es für schlecht, medizinische Empfehlungen unter dem Motto 'Viel hilft viel' auszusprechen." Hat er recht?
Ja, absolut. Sie können das Immunsystem auch überreizen. Zum einen kann es sich an die Impfstoffe gewöhnen und reagiert dann gar nicht mehr. Schon das ist ja nicht gewollt.
Zum anderen kann es sein, dass das Immunsystem nicht mehr so gut auf manche ganz neue Varianten reagiert, weil es zu sehr auf die ursprüngliche Form geprägt ist.
Lohnt es sich denn für die Risikogruppen, auf den Omikron-Impfstoff im Herbst zu warten?
Leider sind die Daten bisher nicht sehr vielversprechend. Es zeigten sich bei geimpften Affen kaum Unterschiede in der Wirksamkeit – egal ob nun mit dem bekannten oder dem neu entwickelten Vakzin geimpft wurde. Dennoch könnte es sinnvoll sein, sich im Herbst den zweiten Booster abzuholen. Man sollte die weiteren Untersuchungsergebnisse abwarten.
Und im Übrigen ist es auch gar nicht schlecht, dem Immunsystem nach der dritten Impfung Zeit zu geben, sein immunologisches Gedächtnis zu entwickeln. Sechs Monate sind da besser als drei zwischen der dritten und der vierten Impfung.
Omikron – und speziell der derzeit dominante Subtyp BA.5 – gilt nun gemeinhin aber als harmlosere Variante, die zwar sehr ansteckend ist, aber nicht mehr zu so schweren Krankheitsverläufen führt ...
Das würde ich so nicht sagen. Ob das Virus schwächer geworden ist oder wir stärker durch die erworbene Immunität nach Impfung oder Infektion, lässt sich so eindeutig nicht sagen. Ich denke, wir dürfen Omikron und BA.5 nicht unterschätzen. Für bestimmte Bevölkerungsgruppen kann auch diese Variante sehr gefährlich werden.
Noch eine Frage, die vielleicht nur am Rande mit Corona zu tun hat: Warum schniefen und husten derzeit so viele Menschen? Die Hausärzte sprechen von einer Erkältungswelle parallel zu Corona ...
Das hat mit der einfachen Tatsache zu tun, dass wir nahezu alle hygienischen Schutzmaßnahmen gegen das Virus aufgehoben haben. Und was SARS-CoV-2 abhielt, hielt auch andere Erkältungsviren ab. Nun wird das Immunsystem mit ihnen wieder konfrontiert, die Folgen sehen wir derzeit in der Erkältungswelle.
Herr Radbruch, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Empfehlungen der EMA
- www.spiegel.de: "Wir werden einen sehr schweren Herbst haben", 14.07.2022
Welt-Interview mit Thomas Mertens vom 16.07.2022 - Interview mit Andreas Radbruch