Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Ende der Corona-Maßnahmen Wenn Einkaufen zur Gefahr wird
Die wirksamsten Schutzmaßnahmen gegen Corona sollen am Sonntag aufgehoben werden, die FDP bekommt ihren "Freedom Day". Doch eine breite Front von Kritikern warnt vor den Lockerungen. Nicht ohne Grund.
Am kommenden Sonntag sollen fast alle Corona-Maßnahmen aufgehoben werden. Wer dafür gute Argumente finden will, muss derzeit allerdings lange suchen. Das sehen auch Teile einiger Regierungsparteien so. Die Formulierungen der künftigen Regelungen dürften – zumindest zwischen den Zeilen – genau das offenbaren: Es gibt einen tiefen Zwiespalt zwischen lang angekündigter Lockerung und aktueller Realität der Pandemie.
Die vulnerable Gruppe – das ist fast jeder zweite Deutsche
Das Ende der Schutzmaßnahmen wird einmal mehr zu großen Kontroversen führen. Die einen werden ihren lang erwarteten "Freedom Day" feiern. Die anderen werden mit großen Sorgen auf das schauen, was nun auf sie zukommt. Und das sind viele: Menschen etwa mit Diabetes oder Atemwegserkrankungen, Obdachlose, Arme, Ältere, Geflüchtete, Pflegebedürftige und etliche mehr. Die Schwächeren unserer Gesellschaft also, wie es so häufig und so falsch heißt. Oder kurz: die vulnerablen Gruppen.
Zu ihnen zählen übrigens allein in Deutschland mehr als 36 Millionen Menschen. Dass in der Pandemie eine riesige Mehrheit viel zu große Opfer für eine winzige Minderheit erbracht hätte, ist also vollkommen falsch. Es täte auch nichts zur Sache.
Angesichts dieser Zahl gefährdeter und teils tief besorgter Menschen und der künftigen Regelungen darf man zumindest staunen, wenn nun etwa FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann sagt: "Ziel bleibt, die vulnerablen Menschen besonders zu schützen." Falls er nicht selbst ein Risikopatient ist – einer seiner liebsten Menschen ist es mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit. Für diese Menschen wird künftig selbst ein Einkauf zur Gefahr.
Längst mehren sich deshalb die Stimmen gegen die anstehenden Lockerungen: Der Bundesverband der Deutschen Industrie etwa nennt sie schwer zu verantworten. Auch die Bundesärztekammer mahnt das Beibehalten der Hygienemaßnahmen an. Eine Reihe von Bundesländern will sie bereits so lange wie möglich – das bedeutet: bis zum Monatsende – verlängern.
Dabei bedeute das Aufheben der Schutzmaßnahmen nicht ihr Verbot, heißt es. Wer sich selbst weiter mit einer Maske schützen will, könne das tun, sagt beispielsweise der FDP-Gesundheitsexperte. Das stimmt natürlich. Dabei werden aber zwei Dinge übersehen.
Ein Aufheben der Maßnahmen erzeugt oder verstärkt bei manchem den Eindruck, die Pandemie sei vorbei. Das ist sie aber nicht. Kliniken kommen bereits wieder an ihre Grenzen. Planbare Behandlungen müssen teilweise verschoben werden. Das kann etwa bedeuten: Trotz Diagnose auf fortgeschrittenen Krebs muss die dringende Operation womöglich um etliche Wochen verschoben werden. Damit im Supermarkt keine Maske mehr nötig ist.
Und die Zahl der Neuinfektionen erreichte erst vor wenigen Tagen einen Spitzenwert. Zwar verlaufen viele von ihnen glimpflich. Das aber ist eine trügerische Sicherheit. Denn jede einzelne kann zu Long-Covid führen oder zumindest zu langen und starken Einschränkungen – ganz gleich, wen sie trifft.
Ausgerechnet in einer Pandemie darf sich der Staat nicht zurückhalten
Und außerdem geht es eben nicht allein darum, sich selbst zu schützen. Sondern auch alle anderen. Und diese Entscheidung darf der Staat nicht jedem Einzelnen überlassen. Er muss sich verantwortlich zeigen. Das tut er in vielen Bereichen, in denen er unser Zusammenleben regelt, anstatt jedem selbst zu überlassen, was er richtig findet und was nicht. Warum dann ausgerechnet in einer solchen Pandemie nicht?
Dass viele Menschen sich nach zwei Jahren ihre alten Freiheiten zurückwünschen, ist nur allzu verständlich. Aber auch das Virus wird diese Freiheit nutzen. Offenbar will es die Bundesregierung künftig jedem Einzelnen überlassen, was ihm seine Angehörigen, seine Kollegen, seine Freunde wert sind. Das sollte sich jeder gründlich überlegen – und zwar noch vor dem kommenden Sonntag.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.