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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vierte Corona-Welle Experte: Wir sehen erst den Anfang des Elends
Corona schlägt im zweiten Pandemie-Herbst noch heftiger zu als zuvor. Kann die vierte Welle noch gestoppt werden? Ein Experte erklärt, warum es dafür wohl schon zu spät ist und warum neue Lockdowns drohen.
Das Coronavirus bestimmt auch diesen Herbst und Winter. Das Robert Koch-Institut meldet heute den höchsten Inzidenzwert seit Beginn der Pandemie (201,1). Und auch in diesem Jahr steigen wieder die Infektionszahlen, die Krankenhauseinweisungen und die Todesfälle. t-online sprach mit dem Professor für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes, Thorsten Lehr. Er hat den Covid-Simulator mitgestaltet, der die weitere Entwicklung der Pandemie modelliert.
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t-online: Herr Lehr, die Inzidenzen steigen in Teilen Deutschlands rasant, auch die Zahl der Hospitalisierungen geht nach oben. Hat Sie die derzeitige Entwicklung überrascht?
Thorsten Lehr: Nein, das überrascht in dieser Situation keinen Experten. Wir sind auch lange noch nicht am Ende der Entwicklung. Man könnte sagen, wir sehen erst den Anfang des Elends. Die Situation beunruhigt, aber sie überrascht nicht.
Wir Laien gingen davon aus, dass Impfungen die Zahlen senken und die dramatischen Entwicklungen bremsen könnten. Was ist passiert?
Das ist einfach zu erklären. Vorab: Unsere Impfquote von knapp zwei Drittel der Deutschen ist nicht wirklich schlecht, aber natürlich nicht ausreichend. Das trifft allerdings zusammen mit der wesentlich ansteckenderen Delta-Variante. Das Virus ist durch diese Mutation doppelt so ansteckend geworden. In der Kombination ergibt sich eine Art Nullsummenspiel. Und was wir auch nicht vergessen dürfen: Auch Geimpfte können sich infizieren. Sie sind zwar vor schweren Verläufen weitgehend geschützt, aber sie sind wenigstens kurzzeitig ähnlich infektiös wie Ungeimpfte.
Sie plädieren aber dafür, nicht zu schwarzzusehen ...
Ja, wir müssen uns klarmachen, wir haben hochpotente Impfstoffe, die vor allem die vulnerablen Gruppen – speziell nach der dritten Impfung – gut schützen können. Unser Problem bleibt, dass sich zu wenige Menschen außerhalb der Risikogruppen impfen lassen. Ein Hoffnungsschimmer sind die Kinderimpfungen. Wir sehen bei den 5- bis 14-Jährigen derzeit Inzidenzen, die doppelt so hoch sind wie im Durchschnitt. Kinderimpfungen können hier Entlastung bringen.
Um die vierte Welle zu brechen, könnte es aber bereits zu spät sein.
Ja, das muss man leider klar thematisieren. Selbst wenn wir es jetzt in kurzer Zeit hinbekommen würden, zehn oder zwanzig Prozent der Menschen zu impfen, braucht es mindestens fünf Wochen, bis der Immunschutz aufgebaut ist. Abgesehen davon, dass sich die Impfquote so ad hoc nicht steigern lässt, wäre es für das Brechen der vierten Welle bereits zu spät.
Welche Szenarien haben Sie für den Winter modelliert?
Wenn wir davon ausgehen, dass alles so bleibt wie jetzt – die Impfquote stagniert also weiterhin – dann würde dies zu einer Durchseuchung der Bevölkerung führen und die Krankenhäuser an ihre Grenzen bringen. Für eine Erleichterung könnte die Booster-Impfung vor allem in den vulnerablen Gruppen sorgen. Die sollte schleunigst vorangetrieben werden.
Was droht uns sonst?
Ich bin der Überzeugung, dass die Politik wieder Maßnahmen zur Viruseindämmung verhängen wird. Wir müssen unsere Kontakte wieder reduzieren. Und wir müssen auch über Tests von Geimpften sprechen, denn sie können Virusüberträger sein. Die Rücknahme der kostenlosen Schnelltests war ein Fehler. Auch die Regelung, dass Ungeimpfte in der Quarantäne keine Lohnfortzahlung erhalten, kann eher kontraproduktiv sein. Dann arbeiten diese Menschen weiter und verschweigen ihr Testergebnis. Das kann zu noch mehr Infektionen führen.
Welche Maßnahmen haben sich eigentlich als besonders effektiv in der Viruseindämmung herausgestellt?
Das kann man so einfach nicht sagen. Schauen Sie: Bei Schulschließungen zum Beispiel kann man nicht genau sagen: Waren jetzt die geschlossenen Klassen der Grund oder die Tatsache, dass die Kinder sich auch nach der Schule nicht treffen konnten oder zum Beispiel nicht gemeinsam im Schulbus fuhren. Wir gehen davon aus, dass der Mix aus verschiedenen Maßnahmen das Virus in seiner Ausbreitung eindämmen konnte: Also etwa Maskenpflicht, Hybridunterricht und Schulschließungen, Homeoffice-Pflicht und Lockdowns.
Wenn Lockdowns nun doch nicht ausgeschlossen sind, wer hat die Entwicklung verschlafen?
Die Kombination aus der saisonalen Entspannung im Sommer – die immer zu beobachten ist – und dem Bundestagswahlkampf spielt hier sicher eine Rolle. Wir haben eine langanhaltende Stagnation gesehen.
Die Politik scheint sich um eine Impfpflicht zu drücken ...
Ja, aber aus epidemiologischer Sicht wäre das natürlich extrem sinnvoll. Sie würde bedeuten, dass die Pandemie zumindest hierzulande beendet wäre.
Wenn sich die Verantwortlichen davor scheuen, was könnte noch getan werden?
Ich plädiere immer für Impfanreize. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, den Menschen, die sich jetzt impfen lassen, die Tests zu bezahlen, bis sie die vollständige Immunität erreicht haben, also etwa in fünf bis sechs Wochen. Damit wären die Geimpften und die frisch Geimpften auf der sicheren Seite und das würde in unserer gegenwärtigen Situation sehr helfen.
Und die Booster-Impfung ist sicher wichtig. Für alle oder nur für die Risikogruppen?
Zunächst muss die dritte Impfung für die Älteren und Immungeschwächten vorangetrieben werden, und das mit Hochdruck. Ich denke aber, die dritte Impfung für alle wird auch kommen.
Können Sie uns schon etwas zur Situation zum diesjährigen Weihnachtsfest sagen? Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt bereits wieder vor Kontaktbeschränkungen zu Weihnachten.
Ich finde, das ist zu früh, darüber zu sprechen. Das ist reine Spekulation. In den nächsten Wochen kommt es darauf an, dass wir gemeinsame Anstrengungen unternehmen. Wir müssen die Impfquote erhöhen und es muss klar sein: Die Hygieneregeln gelten weiter – für alle.
Herr Lehr, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Thorsten Lehr
- Eigene Recherche