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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Zahlen steigen Virologen-Chef erklärt, was die hohen Inzidenzen bedeuten
In Deutschland steigen die Infektionszahlen wieder rasant, die Impfquote dagegen nur langsam. Was bedeuten die hohen Inzidenzen in der aktuellen Phase der Pandemie, in der die Risikogruppen geschützt sein sollten?
Das Robert Koch-Institut (RKI) meldet heute eine bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz von 30,1. Vor einer Woche lag dieser Wert noch bei 20,4. Gleichzeitig ließen sich am Dienstag nur 70.000 Deutsche den ersten Anti-Corona-Piks verpassen – so wenige wie zuletzt im Januar. t-online fragte den Präsidenten der Gesellschaft für Virologie, Dr. Ralf Bartenschlager, nach einer Bewertung der aktuellen Lage.
t-online: Warum sehen wir aktuell, dass die Zahlen früher und schneller steigen als im vergangenen Sommer um diese Zeit?
Ralf Bartenschlager: Das ist sehr wahrscheinlich der Delta-Variante des Coronavirus zuzuschreiben. Diese Mutante weist einen wesentlich höheren Basisreproduktionswert auf. Dieser Wert bestimmt, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, wenn noch keine Immunität besteht und keinerlei eindämmende Hygienemaßnahmen getroffen werden. Beim Ursprungsvirus lag dieser Wert zwischen 2 und 3. Bei der Delta-Variante gehen wir von einem Wert von 5 bis 6 aus.
Das heißt: Die Ansteckungsgefahr steigt. Schon wenn man in Innenräumen vielleicht mal etwas nachlässiger beim Maskentragen ist oder sie doch dann mal vielleicht kurzzeitig gar nicht trägt, kann man sich infizieren.
Man würde aber erwarten, dass auch die Impfquote eine Rolle spielt. Impfungen gab es ja letztes Jahr um diese Zeit noch gar nicht…
Wir sehen jetzt vermehrt Infektionen in jüngeren Bevölkerungsgruppen. Wir haben eine Impfquote bei den Über-60-Jährigen von über 80 Prozent. Bei Jüngeren liegt sie in bestimmten Altersgruppen bei etwa acht Prozent.
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Das heißt aber auch, dass die besonders gefährdeten Gruppen zu einem hohen Maß schon geschützt sind. Welche Rolle spielt dann der Inzidenzwert für die Vorhersage schwererer Krankheitsverläufe und einer eventuellen Überlastung des Gesundheitssystems?
Der Inzidenzwert bleibt ein wichtiger Parameter, aber natürlich spielt auch die Impfquote in den Altersgruppen sowie die Belegung der Krankenhausbetten eine Rolle. Jüngere Menschen erkranken seltener und in der Regel weniger schwer an Covid-19, obwohl auch hier schwere Krankheitsverläufe vorkommen, besonders in bestimmten Risikogruppen. Risikofaktoren sind zum Beispiel Vorerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Probleme, starkes Übergewicht oder Tumorerkrankungen. Im schlimmsten Fall müssen diese Personen auf der Intensivstation behandelt werden.
Man sollte aber nicht ausschließlich auf die Belegung der Intensivbetten mit Covid-19-Patienten schauen, weil diese Zahl erst sehr spät ansteigt. Im Vergleich dazu ist der Blick auf die Belegung der Krankenhausbetten besser, denn diese Zahl steigt früher an als die der Intensivpatienten.
Dr. Ralf Bartenschlager leitet die Abteilung für Molekulare Virologie an der Universität Heidelberg und ist Präsident der Gesellschaft für Virologie.
Großbritannien ließ Mitte Juli alle Anti-Corona-Maßnahmen fallen. Die Zahlen stiegen zunächst stark an, sanken zwischenzeitlich aber wieder ab. Wie erklären Sie sich das, müssten die Inzidenzen nicht dauerhaft hoch sein?
Da treffen vermutlich verschiedene Faktoren zusammen, aber zunächst muss man sagen, dass auch jetzt in Großbritannien Auswirkungen auf das Gesundheitssystem zu beobachten sind. Operationen werden vorbeugend verschoben zum Beispiel.
Aber zurück zur Frage. Zum einen ist immer noch Urlaubs- und Ferienzeit, also die Schulen sind geschlossen und es wird vermutlich weniger getestet. Was wir nicht genau wissen ist der aktuelle Immunitätsstatus der dortigen Bevölkerung. Zu der Impfquote von knapp 60 Prozent müsste man die Zahl der Genesenen hinzurechnen. Doch diese Zahlen sind schwer zu ermitteln, da auch asymptomatisch Infizierte, die nicht getestet wurden, eine Immunität entwickeln.
Es gibt aber aktuell Hinweise, dass in einigen Regionen von Großbritannien, beispielsweise London und Umgebung, die Zahl der Antikörper-positiven Personen, also die eine Infektion durchgemacht haben, bei circa 15 bis 20 Prozent liegt. Wenn man das zur Impfquote hinzuzählt, kommt man allmählich in einen Bereich der Herdenimmunität, bei der sich die Virusausbreitung verlangsamt.
Aktuell werden vermehrt sogenannte Impfdurchbrüche beobachtet, also auch doppelt Geimpfte infizieren sich mit dem Coronavirus. Die zugelassenen Impfstoffe schützen sehr gut vor schweren Krankheitsverläufen, weniger gut vor einer Infektion speziell auch mit der Delta-Variante. Brauchen wir andere Impfstoffe?
Zumindest für Risikopersonen wird das notwendig, idealerweise mit einem angepassten Impfstoff, der auch die Delta-Variante erfasst. Bislang ist die Impfung ja noch auf das Ursprungsvirus zugeschnitten. Von Biontech ist bekannt, dass ein angepasster Impfstoff demnächst in klinischen Studien erprobt wird. Aber auch mit diesen Impfstoffen werden sie die sogenannte sterile Immunität – also dass jeder Geimpfte sich gar nicht mehr infizieren kann – nicht erreichen. Dafür ist das Immunsystem der Menschen zu unterschiedlich.
Sie werden immer Menschen haben, die eine schlechtere Immunantwort auf eine Impfung entwickeln. Das hat verschiedene Ursachen, teils durch das Alter oder bestimmte Erkrankungen bedingt, teils auch genetischer Natur. Und für genau diese Personen wäre für den Ernstfall eine antivirale Therapie wichtig, die es bisher aber noch nicht gibt.
Welche Impfquote werden wir erreichen, was schätzen Sie?
Da kann man eigentlich nur raten, aber optimistisch rechne ich mit vielleicht circa 75 Prozent; das reicht aber nicht für die Herdenimmunität wegen der Delta-Variante. Wenn es nicht gelingt die Übrigen auch zu impfen, wird sich hier wohl das Virus durchsetzen und die Immunität kommt dann durch die Infektion. Denn klar ist: Jeder wird sich früher oder später mit dem Virus infizieren. Wenn man an die Konsequenzen denkt, ist dann die Frage, ob das Virus auf einen geimpften Menschen trifft, der durch seine Immunantwort geschützt ist oder eben auf einen Ungeimpften.
Eine Studie aus Japan legte vor Kurzem nahe, die Lambda-Variante, die zuerst in Südamerika nachgewiesen wurde, könnte von den Impfungen weniger gut abgefangen werden. Müssen wir Angst haben?
Diesen Schluss gibt die Studie nicht her. Die Forscher haben nicht mit dem Virus, sondern nur mit einem Modellsystem gearbeitet und sie haben nie die Lambda- und die Delta-Variante miteinander verglichen. Man kann aber aus den Ergebnissen ableiten, dass die Lambda-Variante nicht mehr Immunflucht macht als die Delta-Variante.
Man muss sich auch klarmachen: Lambda wurde schon im Februar 2021 in Deutschland gefunden, war also schon vor Delta hier. Und dennoch hat Delta sich durchgesetzt. Das lässt vermuten, dass Delta besser angepasst ist als Lambda, zumindest unter den damaligen Bedingungen. Ich schließe nicht aus, dass Lambda eines Tages auch in Deutschland dominieren könnte, aber derzeit macht Delta hierzulande 97 Prozent der Neuinfektionen aus.
Rechnen Sie mit noch mehr Varianten des Coronavirus?
Ja, davon ist auszugehen. Allerdings kann niemand sagen, in welche Richtung sich das Virus entwickelt. In der Evolution sehen wir, dass Viren mit zunehmender Anpassung häufig weniger gefährlich werden, schlicht, weil sie dann mehr Wirte finden und sich so besser verbreiten können. Ob das auch bei Corona so sein wird, wissen wir nicht, es ist aber durchaus denkbar.
Herr Bartenschlager, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Ralf Bartenschlager
- Eigene Recherche