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Corona in Großbritannien: Ist ihre Durchseuchungsstrategie gefährlich?


Ende aller Maßnahmen
Wie gefährlich ist die "Durchseuchungsstrategie"?


Aktualisiert am 06.07.2021Lesedauer: 6 Min.
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Britische Fußballfans feiern EM-Erfolg: Schon bald soll es auf der Insel keine Corona-Maßnahmen mehr geben.Vergrößern des Bildes
Britische Fußballfans feiern EM-Erfolg: Schon bald soll es auf der Insel keine Corona-Maßnahmen mehr geben. (Quelle: ZUMA Wire/imago-images-bilder)

Keine Masken- oder Abstandsregeln mehr, Clubs und Diskotheken öffnen: Schon bald will Premierminister Boris Johnson alle Corona-Maßnahmen in Großbritannien aufheben. Ist das ein gangbares Modell?

Am 19. Juli könnte es so weit sein: Alle verbliebenen Corona-Maßnahmen sollen dann nach dem Willen des britischen Premierministers in Großbritannien aufgehoben werden. Darunter fallen unter anderem die Maskenpflicht im Nahverkehr und in Geschäften sowie alle Abstandsregelungen. Auch Diskotheken und Nachtclubs sollen wieder öffnen. Für Veranstaltungen gelten dann keine Teilnehmerbegrenzungen mehr.

Boris Johnson erntete für sein Konzept der "Durchseuchung" der noch nicht geimpften Bevölkerung bereits scharfe Kritik. Eine endgültige Entscheidung soll am 12. Juli fallen. Doch kann diese Strategie funktionieren? Und wäre sie auch für Deutschland ein gangbares Modell? t-online hat sich den Plan genauer angeschaut und Experten befragt.

Corona-Pläne in Großbritannien: Was wird kritisiert?

Das angekündigte Ende aller Corona-Vorschriften in England hat einen Sturm der Entrüstung gegen den britischen Premierminister Boris Johnson ausgelöst. Ärzte, Gewerkschaften, Bürgermeister und Opposition kritisieren vor allem die Entscheidung, die Maskenpflicht im Nahverkehr und in Geschäften aufzuheben.

Es sei besorgniserregend, dass Johnson die Lockerungen "mit Vollgas" durchsetze, sagte der Chef der Ärztevereinigung BMA, Chaand Nagpaul. "Es besteht eine klare Diskrepanz zwischen den Maßnahmen, die die Regierung plant, und den Daten und Ansichten von Wissenschaftlern und Ärzten." Wirtschaftsvertreter reagierten hingegen erfreut.

Das Land befinde sich auf unbekanntem Territorium, sagte die Gesundheitswissenschaftlerin Devi Sridhar bei Sky News. Es handele sich um ein "massives Experiment". Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei nannte Johnsons Pläne "rücksichtslos". Der Bürgermeister der Metropolregion Liverpool, Steve Rotherham, wies auf eine YouGov-Umfrage hin, laut der 71 Prozent der Briten für die Beibehaltung der Maskenpflicht sind.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan kündigte gar an, das Maskentragen in U-Bahnen, Bussen und Zügen mit Verkehrsunternehmen und der Regierung zu besprechen. "Meine Maske beschützt dich, deine Maske beschützt mich", twitterte Khan.

Was steckt hinter dem britischen Corona-Konzept?

Den Plänen aus Großbritannien zufolge ist zu erwarten, dass die bisher nicht geimpfte Bevölkerung "durchseucht" wird, sich also so viele Menschen infizieren, dass gemeinsam mit der Immunität der Geimpften eine Herdenimmunität entsteht. Allerdings ginge dieses Konzept vor allem auf Kosten der jüngeren Bevölkerung, die bisher noch keinen Impftermin bekommen konnte oder die noch gar nicht geimpft wird.

Was ist Herdenimmunität?
Als Herdenimmunität beschreiben Epidemiologen einen Zustand, in dem ein indirekter Schutz vor einer ansteckenden Krankheit entsteht, weil ein ausreichend hoher Teil der Bevölkerung immun ist. Das geschieht sowohl durch Impfung als auch durch Infektion. So wird verhindert, dass sich der Erreger weiter ausbreiten kann.

Großbritanniens Gesundheitsminister Sajid Javid verteidigte die Pläne. Im Radiosender BBC 4 räumte Javid zwar ein, dass sich die Zahl der Neuinfektionen erhöhen werde. "Wenn wir lockern und in den Sommer starten, erwarten wir einen deutlichen Anstieg, die Zahl der Fälle könnte auf bis zu 100.000 (täglich) steigen", sagte der Minister.

Javid betonte aber, der Einsatz von Impfstoffen trotz weiterer Infektionen habe die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Todesfälle gesenkt. "Die Impfstoffe wirken, sie sind unser Schutzwall", sagte Javid bei Sky News. "Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben." Es könne nicht nur immer um Corona gehen, sagte Javid.

Gastronomie und Tourismusgewerbe loben den Schritt

Der Branchenverband UK Hospitality, der Gaststätten und Tourismusbetriebe vertritt, lobte die Ankündigung als Meilenstein. Der Kneipenverband British Beer and Pub Association wies darauf hin, dass endlich mehr als 2.000 Pubs öffnen könnten, die wegen strenger Abstandsregeln derzeit immer noch geschlossen haben.

Auch die Veranstaltungsbranche zeigte sich begeistert. Der Industrieverband CBI begrüßte die Pläne ebenfalls, mahnte aber, Unternehmen müssten die Sicherheit ihrer Angestellten an erste Stelle setzen.

Offen ist noch, wie sich die Pläne auf Schulen und Reisen auswirken. Erwartet wird, dass vom 19. Juli an nur noch Schüler in Selbstisolation müssen, die positiv getestet werden. Ihre Klassenkameraden können dennoch in die Schulen gehen – bisher müssen sie ebenfalls in häusliche Quarantäne. Geplant ist zudem, dass vollständig Geimpfte nach ihrer Ankunft aus Ländern wie Deutschland, die auf einer "gelben Liste" stehen, nicht mehr in Selbstisolation müssen.

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Wie ist die aktuelle Corona-Lage in England?

In Großbritannien ist die Zahl der Corona-Infektionen zuletzt wieder in die Höhe geschnellt: Die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Neuinfektionen pro 100.000 Menschen binnen einer Woche, wurde zuletzt mit 229,9 angegeben (Stand: 30. Juni 2021). Grund ist die rasche Ausbreitung der hochansteckenden Delta-Variante.

Insgesamt gab es in Großbritannien bisher laut Johns Hopkins University (Stand: 6. Juli 2021) rund 4,9 Millionen bestätigte Coronavirus-Infektionen, 128.495 Menschen starben an Covid-19. Auf der anderen Seite sind bereits mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig geimpft.

Ist das Konzept der "Durchseuchung" sinnvoll?

Während einige Briten ihr Konzept verteidigen, bleiben Experten skeptisch. t-online hat dazu mit den Epidemiologen Markus Scholz und Rafael Mikolajczyk gesprochen.

(Quelle: Universität Leipzig)


Prof. Dr. Markus Scholz leitet am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie (IMISE) der Universität Leipzig eine Arbeitsgruppe zur Genetischen Statistik und Systembiologie. Seine Arbeitsgruppe untersucht aktuell auch die Corona-Pandemie.

"Ein solcher Schritt wäre denkbar, wenn alle, die sich schützen möchten, ein Impfangebot erhalten haben", erklärt Scholz. "Diejenigen, die nicht geschützt sind, müssen dann jedoch mit Ansteckungen rechnen." Problematisch an dem Ansatz sei zudem, dass wir bisher relativ wenig über Long-Covid, also chronische Krankheitsverläufe des Coronavirus wissen.

"Hier ist besonders an den Kinder- und Jugendbereich zu denken", bekräftigt der Epidemiologe. "Entweder man ermöglicht auch für diese Gruppe Impfungen oder sie muss weiterhin geschützt werden, beispielsweise indem Schulen und Kitas möglichst weitgehend pandemiesicher gemacht werden. Eine komplette und schnelle Durchseuchung des Kinder- und Jugendbereichs halte ich für zu riskant."

Warum Durchseuchung jüngerer Menschen heikel ist

Ähnlich sieht es auch der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk: Gerade Großbritannien habe diese Strategie schon am Anfang der Epidemie verfolgt, erklärt er, die Situation sei jetzt jedoch anders. Die Altersgruppen mit erhöhter Sterblichkeit seien weitgehend geimpft, zugleich gebe es zunehmend Hinweise auf Long-Covid nach leichten Verläufen.

"Eine Durchseuchung der jüngeren Menschen kann damit zu einer hohen Krankheitslast in den Folgejahren führen", so der Experte, "aus meiner Sicht sind alle Anstrengungen zu unternehmen, die Impfung bei Kindern voranzutreiben – und parallel die Gefährdung durch Long-Covid zu bestimmen."

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Prof. Dr. Rafael Mikolajczyk ist Direktor des Instituts für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Zudem müsse berücksichtigt werden, dass die Epidemie in der kalten Jahreszeit ohnehin schwieriger zu kontrollieren ist. "Wenn es weniger Einschränkungen geben wird, werden auch andere Infektionen wieder steigen – und alle symptomatischen Fälle müssen abgeklärt werden, dabei erkranken acht Prozent oder mehr der Bevölkerung innerhalb einer Woche an einer Infektion."

Ist es auch für Deutschland denkbar, dass alle Maßnahmen abgeschafft werden?

Auch, wenn hierzulande bereits viele der Corona-Maßnahmen gelockert wurden, ist an eine vollständige Rückkehr zum Leben vor Corona noch nicht zu denken. Und das ist auch richtig so, wie der Epidemiologe Mikolajczyk bestätigt: "Da der Anteil der Geimpften und Genesenen in Deutschland niedriger ist, würde eine Aufhebung aller Maßnahmen aktuell noch zu einem starken Anstieg der Infektionen und einer Belastung des Gesundheitswesens führen."

Doch er macht auch Hoffnung auf ein mögliches Ende der Maßnahmen: "Wenn die Durchimpfung voranschreitet, kann im Herbst die Situation anders sein – das Problem der Gesundheitsgefährdung bei Kindern bleibt aber bis ein Großteil der Kinder geimpft wird."

Auch Markus Scholz sieht noch eine wichtige Hürde: "Man kann überlegen, die Maßnahmen weitgehend aufzuheben, wenn sich alle schützen konnten, die sich schützen wollen. Man benötigt aber ein Schutzkonzept für den Kinder- und Jugendbereich, solange dieser nicht geimpft wird."

Wie gefährlich ist die britische Strategie?

Die Briten laufen nicht nur Gefahr, ihr Gesundheitssystem zu überlasten und zu viele Menschen einer Infektion auszusetzen – sie laufen auch Gefahr, dass sehr viele junge Menschen an Long Covid leiden. Das bestätigt Markus Scholz: "Wir wissen bisher nur sehr wenig über chronische Krankheitsverläufe. Erste Daten zeigen, dass dieses Risiko durchaus ernst zu nehmen ist. Deshalb ist eine Impfung auch für jüngere Personen mit geringem Risiko eines akuten schweren Krankheitsverlaufs sinnvoll."

Dem stimmt auch Mikolajczyk zu: "Wir haben weiterhin keine Klarheit in dieser Frage. Die Hinweise mehren sich, dass dadurch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Gefahren ausgesetzt werden, die besser zu vermeiden wären."

Welche anderen Strategien wären sinnvoller, um Maßnahmen zu lockern, aber gleichzeitig Ungeimpfte zu schützen?

Bei dieser Frage scheint es bisher keine optimale Lösung zu geben. So erklärt Scholz: "Wenn weitgehend gelockert wird, ist es fast unmöglich, Ungeimpfte dauerhaft zu schützen. Die dann Ungeimpften müssen also damit rechnen, dass sie sich früher oder später infizieren, solange keine Herdenimmunität besteht." Auf der anderen Seite sei die Herdenimmunität ohne Durchseuchung nur bei einer "sehr hohen Impfquote" erreichbar und nur dann, wenn auch Kinder und Jugendliche geimpft werden.

Mikolajczyk hält eine Durchseuchung nicht für die richtige Lösung: "Wie bisher fände ich wichtig, die Durchseuchung nicht zuzulassen, sondern Durchimpfung jetzt auch bei Kindern zuzulassen." Doch dank der schon vorhandenen hohen Durchimpfungsrate bei Erwachsenen seien nur geringere Kontakteinschränkungen nötig. Um Kinder und Jugendliche auch ohne Impfung zu schützen, empfiehlt der Epidemiologe weiterhin Tests und Abstandsregelungen in den Schulen sowie eine Optimierung des Online-Unterrichts.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Experten-Anfragen an Prof. Dr. Markus Scholz und Prof. Dr. Rafael Mikolajczyk
  • Nachrichtenagentur dpa
  • Johns Hopkins University
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