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Klinikdirektor zu Corona: "Schwierigste Herausforderung steht uns noch bevor"


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Klinikdirektor zur Impfkampagne
"Die schwierigste gesellschaftliche Herausforderung steht uns noch bevor"


Aktualisiert am 31.05.2021Lesedauer: 5 Min.
Corona-Pandemie: Seit Impfbeginn Ende Dezember 2020 werden prioritär die vulnerablen Gruppen gegen Covid-19 geimpft.Vergrößern des Bildes
Corona-Pandemie: Seit Impfbeginn Ende Dezember 2020 werden prioritär die vulnerablen Gruppen gegen Covid-19 geimpft. (Quelle: Udo Gottschalk/imago-images-bilder)
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Die Corona-Lage in Deutschland scheint sich zu stabilisieren – doch die Pandemie ist noch nicht bewältigt, ist Prof. Dr. Jochen A. Werner aus Essen überzeugt.

Die schwierigste gesellschaftliche Herausforderung in der Corona-Pandemie steht uns noch bevor, sagt der Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende der Universitätsmedizin Essen, Prof. Jochen A. Werner. Wie er das Voranschreiten der Impfungen gegen Covid-19 bewertet und was er von Lockerungen für Geimpfte und Genesene hält, erklärt der Mediziner im Interview mit t-online.

t-online: Professor Werner, die Zahl der Covid-Patienten sinkt, auch die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz ist unter 50 gefallen. Blicken Sie optimistisch auf die weitere Pandemieentwicklung oder ist es noch zu früh für "Entwarnung"?

Prof. Dr. Jochen A. Werner: Ich denke, beides ist richtig. Ich schaue in der Tat optimistisch auf die weitere Entwicklung des Infektionsgeschehens und hoffe sehr, dass wir sukzessive wieder annähernd normale Lebensumstände wie vor der Pandemie erreichen. Ebenso klar ist aber auch, dass uns Covid-19 langfristig, möglicherweise analog zur Influenza, dauerhaft begleiten wird.

Wir werden also weiterhin mit dem Virus leben müssen.

Genau, eine generelle Entwarnung wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Wir müssen ungeachtet unserer nationalen Inzidenz immer berücksichtigen, dass es sich bei Covid-19 um eine globale Herausforderung handelt, die wir auch nur global lösen können, insbesondere im Hinblick auf die gerechte Verteilung von Impfstoffen.

Wie sieht der aktuelle Klinikalltag bei Ihnen aus? Ist eine Entspannung der Lage absehbar?

Der aktuelle Klinikalltag wird jeden Tag weniger von Corona bestimmt. Stand heute (27.05.2021) behandeln wir 36 Patienten, davon 18 intensivmedizinisch. Damit liegen wir deutlich unter den Höchstständen der zweiten Welle mit Spitzenwerten von 143 Patienten insgesamt sowie bis zu 50 Patienten auf unseren Intensivstationen. Daran erkennt man sehr gut die nachlassende Belastung durch Covid-19.

Sie kehren also langsam zurück in den Normalbetrieb...

Ab dem 1. Juni werden wir auch die Beschränkung unserer Intensivkapazitäten aufgeben und wieder unser volles Operationsprogramm fahren. Natürlich dauert die Rückkehr zur klinischen Normalität einige Wochen und natürlich werden uns Covid-19-Patienten noch lange begleiten, aber hoffentlich eben als eine unter vielen anderen Patientengruppen.

(Quelle: Universitätsmedizin Essen)


Prof. Dr. Jochen A. Werner ist Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen.

Was erhoffen Sie sich von den politischen Entscheidungsträgern für die nächsten Monate?

Ich erhoffe mir von der Politik maßvolle und kluge Entscheidungen, die medizinische und gesellschaftliche Interessen gleichermaßen berücksichtigen. Angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen verschiedenen Interessengruppen ist dies eine herausfordernde Aufgabe.

Die Impfungen gegen Covid-19 zeigen einen wesentlichen Effekt bei der Pandemiebekämpfung. Die Impfpriorisierung fällt am 7. Juni. Glauben Sie, dass dieser Schritt zum richtigen Zeitpunkt kommt?

Seit Impfbeginn Ende Dezember 2020 sind entsprechend den Vorgaben der Ständigen Impfkommission prioritär die vulnerablen Gruppen geimpft worden. Das war eine absolut richtige Maßnahme, um besonders gefährdete Menschen zu schützen. Dieses Ziel ist zu einem relevanten Teil erreicht. Aus meiner Sicht kommt es daher jetzt darauf an, Vorerkrankte durch alle Altersgruppen hindurch nicht zu vernachlässigen und zudem die Impfung möglichst schnell, durchgreifend und unbürokratisch in die Breite der Bevölkerung zu tragen, um das generelle Infektionsrisiko zu minimieren. Davon profitieren wir alle.

Ob der Termin 7. Juni ein paar Tage zu früh oder zu spät kommt, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten, für die es jeweils gute Argumente gibt. Prinzipiell ist die Aufhebung der Impfpriorisierung aber der richtige Weg, immer unter der Voraussetzung, dass es genügend Impfstoff gibt. Eine Hintertür bleibt den Ländern auch bei Aufhebung der Priorisierung offen, weil sie weiterhin Teile der Impfdosen für bestimmte Personengruppen zurückhalten können.

Auch wenn das Impftempo nun anzieht, wird es noch Monate dauern, bis alle Impfwilligen vollständig immunisiert sind. Wann schätzen Sie, erreicht Deutschland die Herdenimmunität?

Es gibt ernstzunehmende Stimmen, etwa vom Chefentwickler des Impfstoffs von Astrazeneca, Prof. Andrew Pollard, nach denen wir die Vorstellung einer Herdenimmunität ad acta legen sollten. Diese Herdenimmunität wäre nur erreichbar gewesen, wenn das Virus, ähnlich wie bei Masern, nicht größeren Ausmaßes mutiert. Wir wissen aber mittlerweile durch zahlreiche Varianten, dass das Coronavirus sich ständig verändert. Im Moment scheint es daher am zielführendsten, dass wir unsere Anstrengungen darauf konzentrieren sollten, durch regelmäßige Impfungen die Zahl jener zu minimieren, die schwer erkranken.

Ob es, auch im internationalen Maßstab, tatsächlich jemals eine wirksame Herdenimmunität geben wird, indem ein hoher Prozentsatz einer Population durch Infektion oder Impfung immun geworden ist und dadurch die weitere Ausbreitung des Erregers unterbleibt, ist derzeit nicht absehbar. Der Verlauf wird zeigen, welche Wissenschaftlerin oder welcher Wissenschaftler diese Frage richtig vorhergesagt hat.

Der Biontech-Impfstoff wurde für Kinder ab 12 Jahre freigegeben. Sollten sie nun priorisiert geimpft werden?

Das ist ein überaus komplexes Thema. Wir sehen derzeit bei Kindern und Jugendlichen ein ambivalentes Bild: Die Inzidenz liegt über dem Durchschnitt, gleichzeitig sind die Krankheitsverläufe weniger schwer. Eine Studie aus der Fachzeitschrift "The Lancet" besagt, dass pro eine Million Kinder weniger als zwei im Zusammenhang mit Covid-19 verstorben sind.

Insgesamt ist die Studienlage zur Impfung von Kindern bisher unzureichend. Die Zulassung des Impfstoffs von Biontech/Pfizer durch die Europäische Arzneimittelbehörde Ema betrifft ohnehin zunächst nur die Altersgruppe von zwölf bis 15 Jahre, also rund 5,3 Millionen Personen.

Eine flächendeckende Impfung gegen Covid-19 für Kinder und Jugendliche befürworten Sie demnach nicht?

Ich achte die eher zurückhaltende Einschätzung der Ständigen Impfkommission, die in der Abwägung das individuelle Wohl jedes Impflings in den Vordergrund stellt. Es würden gesunde Kinder geimpft, bei denen die Sterblichkeit im Zusammenhang mit Covid-19 äußerst gering zu sein scheint. Da stellt sich natürlich die Frage nach Nutzen und Risiko.

Hinzu kommt die ethische Problemstellung, ob es vertretbar ist, in den reichen Industrienationen Kinder zu impfen, während in den Entwicklungsländern für die vulnerablen Gruppen noch kein Impfstoff zur Verfügung steht. Ich kann aber ebenso die Intention der Politik verstehen, eine möglichst rasche Durchimpfung aller Bevölkerungsgruppen zu erreichen, von der die gesamte Gesellschaft profitieren würde.

Wie gesagt, es ist ein hochkomplexes Thema, bei dem es nach heutigem Wissenstand keine eindeutigen und einfachen Antworten gibt. Wichtig ist für mich, dass angesichts der unklaren Datenlage das Wohlergehen der Kinder immer im Vordergrund steht und Kinder nicht für irgendwelche Zwecke instrumentalisiert werden.

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Es gibt Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen oder aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können. Für sie wird das "normale Leben" erst später zurückkehren. Sind die derzeitigen Lockerungen für Geimpfte und Genesene angemessen und gerecht? Wie beurteilen Sie das als Mediziner?

Die bisher beschlossenen Lockerungen für Geimpfte und Genesene sind angemessen und nachvollziehbar. Aus meiner Sicht steht uns jedoch die vielleicht schwierigste gesellschaftliche Herausforderung noch bevor, denn selbst bei einer optimistischen Impfquote wird ein relevanter Teil von mehreren Millionen Bundesbürgern verbleiben, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht impfen lassen wollen oder impfen lassen können.

Die endgültige Bewältigung der Pandemie wird zum Schluss nicht zu einer virologischen oder epidemiologischen Aufgabe, sondern zu einer soziologischen und ethischen Frage. Dieses äußerst schwierige Spannungsfeld – nämlich ein womöglich langfristiges Nebeneinander von Geimpften und Nicht-Geimpften – muss bereits jetzt und vor der Bundestagswahl von der Politik in seiner ganzen Dimension erkannt und durchdacht werden.

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Wie kann das gelingen?

Ich sehe eine tragfähige Lösung nur im Dialog mit vielen Menschen und Interessenverbänden unter Einbeziehung des Deutschen Ethikrats, der mit seinen Stellungnahmen und Empfehlungen ja eine Orientierung für die großen Fragen des Lebens in der Gesellschaft geben soll.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Werner!

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Interview mit Prof. Werner
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