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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Lockdown oder Lockerungen? Experte: "Nur so kann die dritte Welle abgebremst werden"
Hohe Infektionszahlen, steigende Inzidenz: Bund und Länder beraten beim Corona-Gipfel, wie es in Deutschland weitergehen soll. Bei t-online bewerten Experten die möglichen Maßnahmen.
Vor den heutigen Bund-Länder-Beratungen über die Corona-Politik zeichnet sich eine Verlängerung des Lockdowns ab. In welchen Bereichen wären Lockerungen möglich? Kann die dritte Welle überhaupt noch gestoppt werden und wo sollten die Maßnahmen dringend verschärft werden? t-online hat Experten zur aktuellen Maßnahmendebatte befragt.
Welche Maßnahmen sollten wieder verschärft werden?
Der Epidemiologe Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie erklärte t-online: "Es ist in der Pandemie schon sehr viel angewendet und probiert worden, wichtiger als neue Maßnahmen erscheint mir ein überzeugendes und nachvollziehbares Vorgehen, das die einsetzende Müdigkeit auffängt." Klare Regeln müssten seiner Ansicht nach allerdings in Bezug auf das Reisen vorgegeben werden. "Da entsteht eine Art Öffnungseuphorie, die nicht mit den recht hohen Infektionszahlen korrespondiert", bekräftigt Zeeb.
Prof. Dr. Hajo Zeeb leitet seit Januar 2010 die Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Zeeb promovierte an der RWTH Aachen zum Dr. med. und arbeitete einige Jahre als Arzt in deutschen und englischen Kliniken, bevor er für drei Jahre als Medical Officer nach Namibia ging.
Auch der Charité-Virologe Christian Drosten warnte im aktuellen NDR-Podcast: "Wir werden kurz nach Ostern eine Situation haben wie um Weihnachten herum." Wegen der Corona-Varianten werde die Situation "drastisch erschwert". Auch die Intensivmediziner warnen seit einigen Wochen vor steigenden Patientenzahlen und fordern eine schnelle Rückkehr zum harten Lockdown.
Die australische Epidemiologin Zoë Hyde vergleicht die Corona-Krise und den Umgang der deutschen Regierung damit mit einem "Marshmallow-Experiment": Wenn die Regierung die Beschränkungen beibehalte, bis die Neuinfektionen auf ein wirklich niedriges Niveau gesenkt werden, wird die Belohnung mit einem Sommer mit nur wenigen Einschränkungen kommen. "Wenn die Regierung die Beschränkungen jedoch zu früh aufhebt, wird dies zu einer schweren dritten Welle führen", warnt Hyde.
"Marshmallow-Experiment"
Von 1968 bis 1974 wurden mit etwa vierjährigen Kindern aus der Vorschule des Stanford Campus Experimente zum Belohnungsaufschub durchgeführt. Den Kindern wurde dazu ein Marshmallow oder etwas anderes Begehrtes gezeigt, der Versuchsleiter verließ dann den Raum und erklärte dem Kind, dass es klingeln müsse, um ihn zurückzuholen, und dann einen Marshmallow erhalten würde. Würde es allerdings warten, bis er selbst zurückkomme, gäbe es zwei Marshmallows.
Ist die dritte Welle noch aufzuhalten?
Hajo Zeeb sieht das eher pessimistisch: "Die dritte Welle ist im Gange, es kann nur bestenfalls gelingen, früh ein Plateau oder den Scheitelpunkt zu erreichen: Das ginge vermutlich nur durch einen harten Lockdown."
Auch der Epidemiologe Markus Scholz von der Uni Leipzig hält einen verlängerten Lockdown für unausweichlich, "da wir seit mehr als vier Wochen kontinuierlich steigende Inzidenzen beobachten. In den letzten zwei Wochen hat sich dieser Trend sogar weiter beschleunigt."
Hauptursache sei die deutlich ansteckendere britische Corona-Variante, die sich immer mehr in Deutschland durchsetze. Zudem lägen wir sowohl mit flächendeckenden Schnelltests als auch mit den Impfungen deutlich zurück. Die dritte Welle könne deshalb "nur durch eine erneute Verschärfung der Maßnahmen abgebremst werden", sagte Scholz t-online.
Prof. Dr. Markus Scholz leitet am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie (IMISE) der Universität Leipzig eine Arbeitsgruppe zur Genetischen Statistik und Systembiologie. Seine Arbeitsgruppe untersucht aktuell auch die Corona-Pandemie.
Welche Lockerungen könnten trotzdem möglich sein?
Bei immer stärker ansteigenden Infektionszahlen sehen die Experten kaum Möglichkeiten für Lockerungen. So erklärte Zeeb, Lockerungen seien aus seiner Sicht "allenfalls regional bei niedrigen Inzidenzen" möglich. "Insgesamt aber sehe ich keine wesentlichen Möglichkeiten bei recht dramatisch steigenden Inzidenzen."
Der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr ist in Bezug auf die steigenden Inzidenzen laut "Handelsblatt" vorsichtig: "Über den Grund für den Anstieg der Inzidenzzahlen lässt sich nur spekulieren: die möglicherweise größere Ansteckungsrate der Variante B.1.1.7, eine wachsende Pandemiemüdigkeit und Mobilität sowie Effekte durch die Ausweitung der Tests kommen infrage." Stöhr beklagt zudem, dass weiterhin unklar bleibe, welchen Einfluss die unterschiedlichen Faktoren in Deutschland haben.
Die Australierin Hyde betonte darüber hinaus, wenn das Virus nicht eliminiert werden könne, könnten immer nur wenige Dinge geöffnet sein, ohne den R-Wert über 1 zu drücken. "Das bedeutet, dass Deutschland ein 'Pandemiebudget' hat. Wie wird es ausgegeben? In Schulen oder in Restaurants und Museen? Wenn sie das Virus nicht beseitigen, können sie nicht alles haben. Ich denke, es steht außer Frage, dass Schulen priorisiert werden sollten", sagte sie.
Dr. Zoë Hyde ist eine australische Epidemiologin, die unter anderem zum Coronavirus bei Kindern forscht und sich mit dem deutschen und europäischen Umgang mit der Pandemie befasst.
Unter welchen Bedingungen könnten Gastronomie und Kultur wieder öffnen?
Eine Öffnung von Gastronomie und Kulturbetrieben wäre möglich, ist hingegen Epidemiologe Scholz überzeugt. Dazu müssten in Innenräumen Raumluftfilter aufgestellt werden. "Zudem sollte ein negativer Schnelltest als Eintrittsbedingung eingeführt werden". In Asien sei dies bereits geläufige Praxis.
In Museen beispielsweise könne in der Regel genügend Abstand gewahrt werden, sodass hier eine Maskenpflicht und Abstandsregeln ausreichen würden, so der Experte. Dies treffe auch auf kleine Geschäfte und Dienstleister zu. "Diese Bereiche sind unkritisch", sagte Scholz.
Epidemiologe Zeeb hält auch das Konzept des Tübinger Tagestickets für "interessant". Er gibt allerdings auch zu bedenken, dass es einiger Ressourcen bedarf, um einen solchen Ansatz durchzuführen. "Es klappt besonders gut, wenn alle Sektoren in einer Stadt mitmachen, und wenn die Inzidenz nicht allzu hoch ist (wie derzeit in Tübingen)." Sehr gut sei zudem, dass das Modellprojekt wissenschaftlich begleitet werde. "So kann man herausfinden, ob und gegebenenfalls was gut funktioniert."
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Eigene Recherche
- Expertenanfragen Prof. Dr. Markus Scholz, Dr. Zoë Hyde, Prof. Dr. Hajo Zeeb
- NDR Podcast: "Dritte Welle ohne Impfung nicht beherrschbar", 16. März 2021.
- Handelsblatt: "Deutschland droht die Notbremse – doch die Zweifel an der Aussagekraft der Inzidenz wachsen", 20. März 2021.