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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ein rätselhafter Patient Lebensgefährlicher Bluterguss
Beim Fußballspiel verletzt sich ein 25-Jähriger den Oberschenkel. Mit Gehstützen und Schmerzmitteln entlassen ihn die Ärzte aus der Ambulanz. Doch das Bein schwillt so stark an, dass der Mann operiert werden muss. Erst nach Tagen entdecken die Mediziner den wahren Grund des Problems.
Starke Beinschwellung nach Sportunfall
Ein Fußballspiel endet für einen jungen Mann jäh: Beim Kampf um den Ball stößt der 25-Jährige mit dem Gegner zusammen und verletzt sich den rechten Oberschenkel. Er krümmt sich vor Schmerzen und lässt sich in die Abteilung für Sportverletzungen der britischen Leeds Metropolitan University bringen. Als er dort eintrifft, ist der Oberschenkel stark geschwollen. Äußere Verletzungen können die Ärzte nicht entdecken, aber im Vergleich zum linken Bein ist der Umfang des rechten deutlich vergrößert. Auf einer Skala von 100 bewertet der Mann seinen Schmerz mit 90. Gelähmt ist das Bein zwar nicht, und der Patient hat auch keine Sensibilitätsstörungen. Aber das Knie kann er nur noch sehr eingeschränkt beugen.
Zu wenig Sauerstoff für die Muskeln
Weil ein Knochenbruch die starken Schmerzen und die Schwellung ausgelöst haben könnte, lassen die Ärzte das Bein röntgen. Doch eine Fraktur ist nicht zu erkennen. Sie versorgen ihren Patienten daher mit starken Schmerzmitteln und Unterarmstützen. Ihre Diagnose: Eine Weichteilverletzung der seitlichen Oberschenkelmuskulatur, die sich nach Schonung wieder zurückbilden wird.
Rot, glänzend, geschwollen: Das Bein des 25-Jährigen fünf Tage nach der Verletzung
Nach fünf Tagen kommt der Mann zurück in die Klinik. Wie Gareth Jones und seine Kollegen im Medizinjournal "The Lancet" berichten, entschuldigt sich der Patient, dass er den Ärzten schon wieder zur Last falle. Sein Oberschenkel allerdings schmerze doch weiterhin stark, die Schwellung habe nicht ab-, sondern zugenommen, außerdem verschwinde das Gefühl im Bein. Die Mediziner sind alarmiert. Tatsächlich hat der Oberschenkel weiter massiv an Umfang zugenommen, die Haut ist blutunterlaufen und das Knie kann der Mann mittlerweile gar nicht mehr beugen. Den Puls der Fußarterien können die Ärzte glücklicherweise noch tasten.
Verdacht auf Kompartmentsyndrom
Sie hegen einen schlimmen Verdacht: Der junge Mann hat vermutlich ein sogenanntes akutes Kompartmentsyndrom. Dabei steigt der Druck in einem Muskelgebiet durch eine Schwellung oder eine Blutung stark an. Am Oberschenkel umgeben membranartige Hüllen aus Bindegewebe, die sogenannten Faszien, bestimmte Muskelgruppen. Durch die Begrenzung fordert ein Hämatom viel Raum in der Loge - und beengt Arterien, Venen, Lymphgefäße, Nerven und die Muskulatur. Die Muskulatur wird nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt, die Zellen sterben ab. Lähmungen und Bewegungseinschränkungen sind häufige Folgen, im schlimmsten Fall zersetzt sich das Gewebe, die entstehenden Stoffwechselprodukte bedrohen lebenswichtige Organe wie etwa die Nieren.
Spielt Vererbung eine Rolle?
Der Patient ist damit ein absoluter Notfall. Eine Blutanalyse zeigt, dass er bereits viel Blut verloren hat, sein Hämoglobinwert ist stark gesunken. Anhand einer Computertomografie (CT) des Oberschenkels schätzen die Ärzte, dass sich ein Bluterguss mit einem Volumen von etwa zwei Litern im Bein ausgebreitet hat. Der Mann wird sofort operiert. Die Chirurgen setzen einen großen Schnitt in die Haut und die Faszien. Dadurch retten sie das Gewebe, Nerven und Gefäße. Die Wunde muss neun Tage lang offen bleiben, der Mann braucht mehrfach Blutkonserven. Während dieser Zeit blutet es häufiger nach, dann können die Ärzte das Bein wieder schließen. Nach dem ersten Eingriff: Das Bein ist wieder geschwollen
Sechs Tage später - der Mann wird nach der OP von seiner Familie an einem anderen Ort in Großbritannien unterstützt - schwillt das Bein wieder an, die Naht platzt auf. Der Patient geht sofort in eine Klinik, wird dort noch zweimal operiert und erhält weitere Bluttransfusionen. Am Ende müssen die Chirurgen ein Stück Haut transplantieren, um die Wunde zu verschließen.
Bluterkrankheit als Ursache
Zwar ist das Kompartementsyndrom ein Notfall, doch die zahlreichen Nachblutungen gehören nicht zu den typischen Komplikationen. Die Chirurgen lassen das Blut des Patienten jetzt erneut untersuchen, auch auf Gerinnungsstörungen. Dabei finden sie endlich die Antwort, warum der Mann immer wieder blutet: Er hat eine sogenannte Hämophilie B, umgangssprachlich auch Bluterkrankheit genannt. Dabei handelt es sich um einen angeborenen Mangel an einem bestimmten Gerinnungsfaktor, dem sogenannten Christmas-Faktor oder Faktor IX.
Ob der Patient bereits vorher unter Blutungen oder häufigen Blutergüssen litt, schreiben die Autoren nicht. Das Krankheitsbild ist potentiell lebensbedrohlich, je nachdem wo die Blutungen auftreten und wie lange es bis zur Blutstillung dauert. Therapeutisch kann der fehlende Gerinnungsfaktor seit einigen Jahrzehnten ersetzt werden. "Heute", schreibt Gareth Jones auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE, "geht es dem Patienten sehr gut."
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.