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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Horrorinflation? So heftig träfe Deutschland ein Energieembargo
Kann sich Deutschland einen Lieferstopp für russisches Gas leisten? Erstmals positioniert sich nun die Bundesbank in dieser Frage. Das Ergebnis ihrer Berechnung ist eindeutig.
Fabrikschließungen, Arbeitslosigkeit, Horrorinflation: Sollte kein russisches Gas mehr nach Deutschland fließen, hätte das fatale Folgen für Wirtschaft und Verbraucher. Das jedenfalls trägt die Bundesregierung seit einigen Wochen vor sich her. Besonders Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck rechtfertigen so, dass sie gegen ein Gasembargo sind.
Das Problem: Eine eigene Berechnung, eine ökonomische Fallstudie für das Gasstopp-Szenario, konnte das Wirtschaftsministerium bis zuletzt nicht vorlegen. Stattdessen, so kritisierten es auch zahlreiche Ökonomen, schien sich die Bundesregierung vor allem auf die Unkenrufe der Industrie zu berufen, die – qua natura – gegen ein Aus der Gaslieferungen ist.
Das dürfte sich nun ändern. Erstmals hat mit der Bundesbank am Freitag nämlich eine quasistaatliche Stelle eine Berechnung für den Fall präsentiert, dass Deutschland kurzfristig auf sämtliche Energieeinfuhren aus Russland verzichtet, neben Gas also auch auf Kohle und Öl. Das Ergebnis in Kürze: Die deutsche Wirtschaft würde tatsächlich in eine Rezession stürzen.
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Im Corona-Jahr ging es wirtschaftlich noch steiler bergab
Statt eines Wachstums in Höhe von rund 3 Prozent dürfte die deutsche Wirtschaft um 2 Prozent schrumpfen. Wörtlich heißt es im am Freitag veröffentlichten Monatsbericht der deutschen Notenbank: "Im verschärften Krisenszenario würde das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) im laufenden Jahr gegenüber dem Jahr 2021 um knapp 2 Prozent zurückgehen."
Zum Vergleich: Im Corona-Jahr 2020 verringerte sich die deutsche Wirtschaft zwar mehr als doppelt so stark, am Jahresende stand ein Minus von 4,6 Prozent. Allerdings handelte sich damals auch um eine globale Pandemie, die die gesamte Weltwirtschaft zum Erliegen brachte, und nicht nur um Energielieferungen aus einem einzelnen Land.
Noch besser verstehen lässt sich all das mit einem Blick in die jüngere Vergangenheit. Ende 2021, vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, hatte die Bundesbank bei der Wirtschaftsleistung für 2022 noch mit einem Plus von 4,2 Prozent gerechnet.
Kaum möglich, Ersatzlieferanten für Gas zu finden
Die Frage, wie sehr ein Embargo Deutschland schaden würde, hatte zuletzt für heftigen Streit unter Deutschlands führenden Ökonomen gesorgt. Die Zunft spaltete sich grob gesagt in zwei Lager: jene, die die Folgen eines Gasembargos für die deutsche Wirtschaft als nicht allzu schwerwiegend einschätzten, es aus politischer Sicht zum Teil sogar befürworteten –, und jene, die wie die Bundesregierung dramatische Konsequenzen befürchteten.
Die Bundesbank positioniert sich nun in der Mitte, mit leichter Tendenz zu denjenigen Experten, die vor schwereren Auswirkungen warnen. Da es kurzfristig kaum möglich wäre, Lieferausfälle aus Russland durch erhöhte Einfuhren aus anderen Förderländern komplett zu ersetzen, dürfte es vor allem bei der Gasversorgung zu Engpässen kommen.
Die Bundesbank geht in ihrem Szenario deshalb davon aus, dass der Einsatz von Energie rationiert würde. Gemeint sein dürfte damit unter anderem der Notfallplan Gas, demzufolge zunächst der Industrie und zuletzt den Privathaushalten das dann knappe Gas abgedreht würde.
Ein vollständiges Embargo würde dieses Jahr zu wirtschaftlichen Einbußen von 165 Milliarden Euro führen. Auch in den Folgejahren würde die deutsche Wirtschaft unter den Konsequenzen leiden, schrieben die Ökonomen der Deutschen Bundesbank. So schätzen die Bundesbänker den Absolutbetrag für 2023 und 2024 auf weitere 115 Milliarden Euro Einbußen pro Jahr. Für diese beiden Jahre wurden keine Berechnungen zu Effekten möglicher Rationierungen von Energie angestellt.
Gestörte Lieferketten machen Firmen zu schaffen
Grundsätzlich wies die Bundesbank darauf hin, dass die Modellrechnungen erheblichen Unsicherheiten unterliegen und die künftige Entwicklung "sowohl über- als auch unterzeichnen" können. Als sicher gelte jedoch, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Krieges nach Einschätzung der Notenbank "die eigentlich angelegte kräftige Erholung erheblich schwächen".
So belasteten unter anderem gestörte Lieferketten, drastisch gestiegene Energiepreise sowie eine erhöhte Unsicherheit Unternehmen und private Haushalte. Das Ausmaß der wirtschaftlichen Folgen des Krieges sei nach wie vor sehr unsicher und hänge von seinem weiteren Fortgang ab.
Im ersten Quartal des laufenden Jahres erwartet die Notenbank in etwa eine Stagnation der Wirtschaftsleistung. Vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar hätten die Lieferengpässe in der Industrie wohl etwas nachgelassen.
Zudem habe die Baubranche von der milden Witterung profitiert, begründeten die Volkswirte ihre Einschätzung. Zum Ende vergangenen Jahres stoppten dagegen die vierte Corona-Welle und die verschärften Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie die Konjunkturerholung. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte im vierten Quartal um 0,3 Prozent gegenüber dem Vorquartal.
- Bundesbank: Monatsbericht April 2022
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa-AFX