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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wirtschaftsvertreter warnen "Ein Delta-Lockdown wäre der Todesstoß"
Gesundheitsexperten und Politiker fürchten, dass wegen der Delta-Variante eine vierte Welle der Corona-Pandemie bevorsteht. Wirtschaftsverbände warnen davor, mit erneuten Lockdowns zu reagieren.
Die Corona-Inzidenz in Deutschland steigt wieder an, die Delta-Variante breitet sich zunehmend aus. Längst zeigt der Blick ins Ausland: Lockdowns und Einschränkungen im Alltag sind eine reale Option, um das Coronavirus einzudämmen. In Australien etwa riegelte die Regierung unlängst ganz Sidney ab, auch Portugal ging rigoros vor, verhängte Einreiseverbote für die Hauptstadt Lissabon.
Nicht erst deshalb ist auch die deutsche Wirtschaft im Alarmzustand – und warnt schon jetzt vor neuerlichen Beeinträchtigungen. Das Credo mehrerer Wirtschaftsverbände: Die Erholung der deutschen Wirtschaft gerät in Gefahr, sollte es zu erneuten Lockdowns kommen.
"Das letzte, was Deutschland braucht, ist ein Delta-Lockdown im Herbst", sagt etwa der Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger, der rund 12.000 Mitglieder und Unternehmen vertritt, t-online. "Das würde vielen Unternehmen im stationären Einzelhandel und Hotel- und Gaststättengewerbe den Todesstoß versetzen."
Arbeitgeberpräsident: Wirtschaft muss Teil der Lösung sein
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger forderte derweil, die Wirtschaft in Lösungskonzepte einzubeziehen. Die größte Sorge der Unternehmen sind dabei Entscheidungen an den Bedürfnissen der Wirtschaft vorbei. Dulger fordert daher ein integriertes Gesamtkonzept, in dem auch Kennzahlen wie der R-Wert und die Belegung von Intensivbetten berücksichtigt werden: "Wir brauchen eine transparente und nachvollziehbare Strategie, bei der jeder weiß, warum welche Maßnahmen beschlossen wurden und die den Unternehmen die für sie so wichtige Planungsgrundlage ermöglicht."
Ein erneuter Lockdown und ein komplettes Herunterfahren der Wirtschaft sei keine nachhaltige Lösung. "Im Gegenteil", so Dulger. "Die Wirtschaft muss immer Teil der Lösung sein."
Verbände einig: Impfkampagne muss vorangetrieben werden
Die Lockdowns in der Corona-Krise haben der deutsche Wirtschaft nach Schätzungen schon jetzt Kosten in dreistelliger Milliardenhöhe verursacht. Berechnungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) beziffern allein die Kosten für das erste Quartal 2021 auf 50 Milliarden Euro.
Entsprechend groß sind die Sorgen in einer Vielzahl an Branchen. Dehoga-Geschäftsführerin Ingrid Hartges machte im "Handelsblatt" für das Hotel- und Gaststättengewerbe deutlich: "Unsere Branche wird einen weiteren Lockdown nicht mehr akzeptieren." Die Inzidenzzahl dürfe nicht der einzige Parameter für Entscheidungen über erneute Einschränkungen sein.
Auch der Hauptgeschäftsführer des Industrieverbandes BDI, Joachim Lang, lehnt die Inzidenzzahl als alleinigen Maßstab ab. Vielmehr müsse auch die Impfquote beachtet werden. "Impfpolitik ist immer auch Wirtschaftspolitik. Flächendeckende Impfangebote und eine hohe Impfbereitschaft öffnen die Tür zurück zu gesellschaftlicher Normalität", teilte er am Montag mit. Ziel aller Maßnahmen müsse es sein den Gesundheitsschutz sicherzustellen und die Stärke des Standortes Deutschland zu erhalten.
Der Wirtschaftsrat fordert darüber hinaus, Geimpften "wieder den kompletten Alltag zu ermöglichen" und für sie wieder Sportstadien, Schwimmbäder und Konzerte zugänglich zu machen. "Das hätte auch den positiven Nebeneffekt, dass wir die akut drohende Insolvenzwelle bei Veranstaltern und Vereinen abwenden können", so Steiger.
Konjunktur-Experte ist optimistisch
Doch es gibt auch Zuversicht unter den Experten. Jürgen Matthes, Konjunktur-Experte IW, zeigt sich im Gespräch mit t-online optimistisch, dass Lockdowns nicht nötig werden: "Es spricht vieles dafür, dass starke Einschränkungen für den Dienstleistungssektor, also vor allem Gastgewerbe und Einzelhandel sowie Kultur- und Freizeiteinrichtungen – eben alle Branchen, die für ihre Tätigkeit Kundenkontakte benötigen – nicht wieder nötig werden."
Mit den 3-G-Regeln und einer konsequenten Kontaktnachverfolgung sollte ein Betrieb mit wenigen Einschränkungen möglich sein, glaubt er. "In unserer Konjunkturumfrage haben wir ja auch im Servicesektor eine deutliche Verbesserung im Vergleich zum Frühjahr verzeichnet, das noch stark vom Lockdown geprägt war", sagte Matthes.
Wenn deutlich weniger Menschen betroffen seien, handele es sich um eine politisch-moralische Frage wie mit dem Restrisiko umgegangen werde und wie sehr gravierende Eingriffe in die Grundrechte noch gerechtfertigt seien.
Bei allem Optimismus sieht Matthes aber auch Schwierigkeiten für die deutsche Wirtschaft. Vor allem Lieferengpässe behinderten die Erholung einiger Branchen: "Die Bauwirtschaft kam verhältnismäßig gut durch die Krise, doch durch die Lieferengpässe kann die deutlich anziehende Nachfrage momentan nicht erfüllt werden. Hier gelingt es auf der Angebotsseite nicht, die PS auf die Straße zu bringen. Die Lieferengpässe wirken wie eine angezogene Handbremse."
- Eigene Recherche
- Gespräche mit dem Institut der deutschen Wirtschaft, BDA, Wirtschaftsrat