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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Drohende Insolvenzwelle "Das Vorgehen der Regierung ist schlicht katastrophal"
Wegen der Corona-Krise mussten Firmen nicht mehr anzeigen, dass sie insolvent sind. Nun wurde diese Ausnahmeregel erneut verlängert. Die FDP wünscht sich mehr Planungssicherheit – und kritisiert den Bund scharf.
Es ist ein Horrorszenario, das einfach nicht eintreten will: Die Corona-Pandemie und ihre Folgen für Hotels, Reiseveranstalter und Innenstadthändler werde zu einer Pleitewelle führen, zu Insolvenzen, Massenentlassungen, warnen Konjunkturforscher und Politiker.
Allein: Bisher ist davon – fast – nichts zu sehen. Im Dezember 2020 lag die Zahl der Insolvenzen noch um neun Prozent unter der des Vorjahresmonats.
Und eine Zeit lang noch wird es nur wenige Insolvenzen geben: Denn der Bundestag beschloss am Donnerstag, die Aussetzung der sogenannten Insolvenzantragspflicht zu verlängern – bis Ende April. Das gilt zumindest für Firmen, die überschuldet sind und bei denen die Auszahlung staatlicher Corona-Hilfen noch aussteht.
Das heißt also: Unternehmen, bei denen die offenen Forderungen höher sind als das vorhandene Vermögen, müssen erst einmal weiterhin keine Insolvenz anmelden. Daran regt sich jedoch heftige Kritik.
Insolvenzregeln wurden wegen Corona angepasst
Normalerweise müssen Betriebe binnen drei Wochen eine Insolvenz beantragen, wenn sie zahlungsunfähig oder überschuldet sind. Aufgrund der nicht absehbaren Folgen für die Wirtschaft setzte der Bund diese Antragspflicht zu Beginn der Corona-Pandemie allerdings komplett aus, seit Oktober müssen zumindest zahlungsunfähige Unternehmen wieder Insolvenzanträge stellen.
Für Betriebe, die wegen der Corona-Krise überschuldet sind, wurde die Lockerung zunächst bis Ende Januar verlängert – und nun erneut ausgeweitet.
FDP: Bund hat Termin "schlicht vergessen"
Für FDP-Politikerin Katja Hessel, Vorsitzende des Finanzausschusses im Deutschen Bundestag, ist der Umgang des Bundes mit den Insolvenzregelungen ein Unding. "Das Vorgehen der Bundesregierung ist schlicht katastrophal", sagte sie im Gespräch mit t-online. "Erst hatten wir eine Verlängerung um ein halbes Jahr, dann um drei Monate, dann um einen Monat und jetzt wieder um drei Monate bis Ende April", so Hessel.
"Die Verlängerung jetzt wurde heute im Schweinsgalopp durchgesetzt, weil die Bundesregierung schlicht vergessen hat, dass der Termin ausläuft", sagte Hessel. "Das alles aber gibt Unternehmen in der Krise keine Planungssicherheit und vor allem keine Perspektive."
Ohnehin betrifft die verlängerte Aussetzung nur einen kleinen Teil der notleidenden Firmen überhaupt. Viele Geschäftsführer wissen indes gar nicht, dass sie längst zum Insolvenzrichter müssten. Ihnen droht gar eine Anzeige wegen Insolvenzverschleppung.
Und ein weiteres Risiko geht mit der Verlängerung einher. "Wenn die Verlängerung ausläuft, entstehen dadurch Zahlungsausfallrisiken, die dann als Kreditausfallrisiken bei den Banken aufschlagen", warnt Hessel.
Zahl der Insolvenzen könnte deutlich ansteigen
Die entscheidende Frage ist nun, wie viele Insolvenzen tatsächlich auf Deutschland zukommen. Die Bundesregierung rechnet etwa damit, dass "sich die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Jahr 2021 deutlich erhöhen" wird, wie aus einer Kleinen Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion ans Bundesfinanzministerium hervorgeht, die t-online vorliegt.
Aktuelle Experteneinschätzungen gingen davon aus, "dass die Zahl der Unternehmensinsolvenzen gegenüber dem Jahr 2019, in dem es laut Statistischem Bundesamt 18.749 Unternehmensinsolvenzen gab, um eine vierstellige, gegebenenfalls sogar niedrige fünfstellige Zahl an Unternehmensinsolvenzen ansteigen könnte", heißt es in der Anfrage.
Dazu verweist das Ministerium etwa auf die Bundesbank, das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW), die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) und die Wirtschaftsauskunftei Creditreform.
Hessel fordert eigene Datenerhebung vom Bund
"Dennoch ist diesen Schätzungen zufolge keine massive Insolvenzwelle in der Breite der Realwirtschaft zu erwarten", heißt es weiter. "Angesichts der Einzigartigkeit der Covid-19-Pandemie sind solche Prognosen allerdings mit hoher Unsicherheit behaftet."
Deshalb kritisiert FDP-Politikerin Hessel die Datenbasis scharf, auf die sich das Finanzministerium beruft. "Es kann nicht sein, dass wir in einer der größten Volkswirtschaften der Welt und in einer solchen Krise mit ungefähren Schätzungen und Zahlen von Drittanbietern operieren", sagte sie zu t-online.
Sie hat dagegen einen anderen Plan. "Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich eigene Zahlen zu erheben", so Hessel. "Wir haben hervorragende Forschungsinstitute im Land, die sicher und schnell Zahlen liefern könnten."
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Katja Hessel
- Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters