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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wichtiges Verfahren Das ist der Mann, der gegen die Steuer auf die Rente kämpft
Eigentlich ist Gert Zimmermann ein gewöhnlicher Rentner. Eigentlich. Ab Mittwoch aber ruhen die Augen Hunderttausender auf ihm. Denn der 74-Jährige kämpft gegen die doppelte Besteuerung der Renten in Deutschland.
Am Abend vor dem großen Tag steht Gert Zimmermann schon einmal vor dem gewaltigen Gebäude im Münchner Stadtteil Bogenhausen, knapp einen Kilometer entfernt vom Englischen Garten. Er zückt sein Smartphone und schießt ein Foto vom "Fleischerschlösschen", das Deutschlands oberstes Steuergericht beherbergt, den Bundesfinanzhof. "So oft ist man ja nicht hier", sagt Zimmermann. "Bis jetzt noch nie."
Der 74-Jährige – kurze, graue Haare, Vollbart – ist aufgeregt. Zwölf Jahre hat er auf diesen Tag gewartet. Immer wieder hat er in dieser Zeit Steuerbescheide gewälzt, Unterlagen von Finanzbehörden gesichtet und mit seinem Steuerberater korrespondiert. An diesem Mittwochvormittag erreicht seine Beharrlichkeit ihren vorläufigen Höhepunkt.
Kommt es bei Renten zur Doppelbesteuerung?
Denn: Der Bundesfinanzhof (BFH) verhandelt über eine Klage, die Zimmermann mit anderen Gerichtsverfahren bereits 2009 ins Rollen brachte – und die Hunderttausenden Senioren Hoffnung auf mehr Geld, mehr Netto vom Brutto macht. Die Frage, um die es geht, lautet: Kommt es bei deutschen Senioren in bestimmten Fällen zu einer doppelten Besteuerung der Rente?
Sollte der BFH sie bejahen, wäre die aktuelle Steuerregelung verfassungswidrig. Eine Niederlage für Finanzminister Olaf Scholz (SPD), Tausende Rentner könnten potenziell Anspruch auf Steuerrückzahlungen haben.
Das Problem begann im Jahr 2005
Um das zu verstehen, muss man einen Blick ins vergangene Jahrzehnt werfen, genauer gesagt ins Jahr 2005. Seitdem nämlich läuft eine schrittweise Umstellung der Rentenbesteuerung, die erst 2040 abgeschlossen sein soll.
Bis 2005 galt: Die Rentenbeiträge der Arbeitnehmer werden in Deutschland "vorgelagert" besteuert. Das heißt, wer einmal in Rente war, musste auf seine zuvor eingezahlten Rentenbeiträge keine Steuern mehr zahlen, sondern lediglich auf den sogenannten Ertragsanteil, sprich auf die in der Zwischenzeit angefallenen Zinsen.
Der Knackpunkt dabei: Anders als Angestellte mussten Beamte ihre Pensionsbezüge im Alter schon immer versteuern. Eine Ungleichbehandlung, die das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe 2002 rügte und den damaligen Finanzminister Hans Eichel (SPD) zu einer Neuregelung veranlasste.
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Nachgelagerte Besteuerung könnte angepasst werden
Eichels Antwort auf das Karlsruher Urteil von damals war das Alterseinkünftegesetz. Das sieht vor, dass die Renten ab 2040 analog zu den Beamtenpensionen voll "nachgelagert" besteuert werden.
Strittig ist seitdem aber die Art und Weise, wie die damalige rot-grüne Bundesregierung die 35 Jahre dauernde Übergangsphase geregelt hat. Denn die Besteuerung der Rentenbeiträge sinkt nun schrittweise, während gleichzeitig der steuerpflichtige Anteil der ausgezahlten Renten steigt.
Besonders problematisch dabei: Die regelmäßigen Rentenerhöhungen werden schon während dieser Übergangsphase voll besteuert. Jahr für Jahr rutschen so Tausende Rentner in die Steuerpflicht.
Gert Zimmermann hält das für ungerecht. "Ich finde, der Gesetzgeber hat es sich zu leicht gemacht", sagt er. Seit mehr als zehn Jahren kämpft er deshalb gegen Finanzbeamte und Steuerbescheide.
"Ich bin ein Traum für die Bundesregierung"
Warum er sich das antut? Ein Grund sei seine Herkunft, sagt Zimmermann, der heute im hessischen Leun bei Wetzlar lebt. "Meine Eltern sind Heimatvertriebene und hatten praktisch keine Altersvorsorge. Das Thema Altersarmut spielte eine große Rolle bei uns zu Hause", sagt er. "Ich wollte es besser machen und mich fürs Alter breit absichern."
Und das hat er getan. Zimmermann, der über Jahrzehnte selbstständig als Zahnarzt arbeitete, hat umfangreich vorgesorgt, in ein berufsständisches Versorgungswerk eingezahlt und freiwillig in die gesetzliche Rente. Darüber hinaus bezieht er sowohl zahlreiche Rürup-Renten als auch private Renten. "Ich bin eigentlich ein Traum für die Bundesregierung", sagt er. "Ich habe stets versucht, fürs Alter so vorzusorgen, wie es die Politik möchte: Die Sicherung des Lebensstandards."
Umso mehr ärgert es ihn, dass er für seine Rente gleich zweimal Geld an den Fiskus abdrücken soll. "Das Finanzgericht Kassel hat festgestellt, dass ein Teil meiner Rente doppelt besteuert wird", sagt er. "Doch das Gericht meinte, die 100 Euro Doppelbesteuerung hätte ich hinzunehmen, es handle sich um eine Bagatelle. Das hätte ich zu akzeptieren." Er findet: "Das kann doch nicht sein, ein Verfassungsverstoß ist keine Bagatelle – egal ob es um viel oder wenig geht."
142.000 Einspruchsverfahren sind anhängig
Mit dieser Auffassung steht Zimmermann nicht allein da. "Viele Senioren vermuten auch in ihrem Fall eine Doppelbesteuerung", sagt Isabel Klocke, Steuerexpertin beim Bund der Steuerzahler, der Zimmermann als Musterkläger unterstützt, im Gespräch mit t-online.
Insgesamt könnten mindestens 142.000 Menschen in Deutschland betroffen sein. So viele Einspruchsverfahren gegen Steuerbescheide wegen einer möglichen Doppelbesteuerung jedenfalls sind zurzeit bei Deutschlands Finanzämtern anhängig, wie aus einer Antwort des Finanzministeriums an die FDP-Bundestagsfraktion hervorgeht.
"Ob tatsächlich in allen Einspruchsfällen eine solche Zweifachbesteuerung vorliegt, muss einzeln beurteilt werden", sagt Klocke. "Doch die enorme Fallzahl zeigt bereits, wie relevant das Thema ist."
Sachverhalt ist höchst komplex
Klar ist dabei: Bei dem Verfahren vor dem BFH steht nicht zur Debatte, die Rentenbesteuerung als solche zu kippen. "Es geht nur um die Frage, ob der Gesetzgeber die Umstellung vom neuen aufs alte System richtig übersetzt hat", erklärt Klocke. "Ich gehe davon aus, dass an bestimmten Parametern der Berechnungsweise nachjustiert wird."
Neben Zimmermanns Fall verhandelt der BFH noch eine weitere Klage zur Frage der Doppelbesteuerung. In den beiden Verfahren spielen eine ganze Reihe sehr komplizierter Einzelfragen eine Rolle, die der Bagatelle ist nur eine von vielen, die der BFH beantworten muss.
So geht es auch darum, ob Grundfreibeträge oder etwa Sonderausgabenabzüge für die aus der Rente zu zahlenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge angerechnet werden müssen oder nicht.
"Viele verstehen nicht, warum ich mich durch das Verfahren quäle"
Zimmermann weiß, wie komplex der Sachverhalt ist. Schließlich hat er sich selbst erst einarbeiten, durch Gesetzestexte wühlen und Paragrafen studieren müssen. "Das Thema Doppelbesteuerung nimmt schon eine gewisse Zeit bei mir zu Hause ein", erzählt er. "Wie viel, lässt sich kaum beziffern – aber das sind sicher einige Stunden in der Woche."
Auch sein Privatleben leidet unter dem Kampf gegen die Doppelbesteuerung. "Viele Bekannte und Freunde verstehen nicht, warum ich mich durch das Verfahren quäle", sagt Zimmermann. "Auch meine Frau kann das nicht nachvollziehen." Ginge es nach ihr, solle er es gut sein lassen. "Doch es geht mir ums Prinzip. Ich fühle mich ungerecht behandelt, ich will nicht einfach beigeben."
Urteil soll bis Ende Mai fallen
Fest steht: Selbst wenn er gewinnt – finanziell lohnen wird sich das Verfahren für Zimmermann nicht. Der Streitwert betrage gerade einmal 860 Euro, erklärt er. Die Kosten für den Steuerberater seien weit höher. "Doch darum geht es mir nicht. Die Entscheidung ist so wichtig, dass die Kosten nur zweitrangig sind."
Fallen dürfte das Urteil schon bald. Bis Ende Mai könnte es der BFH verkünden, wie Volker Pfirrmann, Sprecher des Gerichts, erklärt: "Sollte der Senat des Bundesfinanzhofs feststellen, dass die Regelung zur Rentenbesteuerung verfassungswidrig ist, wird sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Fall beschäftigen."
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Für das Finanzministerium wäre das eine Niederlage, schließlich pocht es stets darauf, dass die Rentenbesteuerung verfassungskonform sei. Entsprechend versucht man die Bedeutung des Verfahrens in Berlin herunterzuspielen. "In den laufenden Verfahren geht es um bisher noch nicht höchstrichterlich entschiedene Einzelfragen", heißt es knapp vom Finanzministerium.
"Ich will einfach nur Gerechtigkeit"
Dabei wissen die Beamten dort sehr genau: Gewinnt Zimmermann, müsste Scholz' Ministerium nachsteuern. Auf Deutschlands Finanzämter käme ein großer Berg Arbeit zu. Andernfalls, sollte er vor Gericht verlieren, müsste Zimmermann Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe einlegen. In jedem Fall wird genau darauf geachtet werden, was die Richter sagen.
Statistisch gesehen stehen die Chancen für den 74-Jährigen nicht schlecht. In etwa 40 Prozent der Verfahren vor dem Bundesfinanzhof haben die Finanzämter in der Vergangenheit verloren.
Und Zimmermann? "Ich will einfach nur Gerechtigkeit. Ich hoffe natürlich, dass wir vor dem BFH gewinnen", sagt er. Falls nicht, wird er womöglich trotzdem weitermachen, auch wenn er das ursprünglich nicht wollte. Doch das ist Zimmermann wohl den Tausenden Senioren schuldig – und vor allem sich selbst.
- Eigene Recherche und Eindrücke vor Ort
- Gespräch mit Gert Zimmermann
- Gespräch mit Isabel Klocke
- Statement vom Bundesfinanzministerium
- Bundesfinanzhof
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa