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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chef der Arbeitsagentur "Wir werden keinen zweiten April 2020 erleben"
Anstieg der Arbeitslosigkeit, Rekorde bei der Kurzarbeit: Der Arbeitsmarkt leidet stark unter Corona. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, ist dennoch optimistisch.
Das Corona-Jahr 2020 hat auch dem deutschen Arbeitsmarkt stark zugesetzt: Erstmals seit 2013 ist die Arbeitslosigkeit gestiegen – um 429.000 auf knapp 2,7 Millionen Arbeitslose. Dass die Entwicklung nicht so stark ausfiel, lag auch an der Kurzarbeit. Im April 2020 gab es ein Rekordhoch an rund sechs Millionen Kurzarbeitern.
Doch wie geht es nun 2021 weiter – auch mit Blick auf den verlängerten Lockdown? Werden wir ein Corona-Prekariat sehen? t-online hat mit dem obersten Arbeitsmarkthüter gesprochen: Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit.
t-online: Herr Scheele, der Arbeitsmarkt zeigt sich in der Corona-Krise relativ robust, Massenentlassungen blieben bislang aus. Wie sehr überrascht Sie das?
Detlef Scheele: Es ist in der Tat erstaunlich, dass wir aktuell recht gut durch die Krise kommen – zumindest mit Blick auf die jüngsten Arbeitslosenzahlen vom November und Dezember. Wir sehen derzeit lediglich den üblichen saisonalen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Aber: Dieser findet auf deutlich erhöhtem Niveau statt. Denn zu Beginn der Krise hat der Arbeitsmarkt schon einen erheblichen Einbruch erlitten, da hatten wir in der Spitze rund 640.000 Arbeitslose mehr. Grund zur Entwarnung gibt es deshalb nicht.
Das gilt auch für die Pandemie selbst. Bund und Länder haben am Dienstag den Lockdown erneut verlängert. Wie lange hält die Wirtschaft, der deutsche Arbeitsmarkt das noch aus?
Das hängt unter anderem davon ab, wie schnell die deutsche Bevölkerung geimpft ist. Die Verlängerung des Lockdowns selbst hat nur geringe Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Mein Eindruck ist: Die Arbeitgeber blicken aktuell relativ optimistisch in die Zukunft. Sie sagen, die Lage ist schwierig – aber sie wollen ihre Angestellten behalten.
Woran merken Sie das?
Das zeigt sich in der Statistik. Die Kurzarbeit ist bis zum neuerlichen Lockdown kontinuierlich zurückgegangen, während die Arbeitslosigkeit nicht im gleichen Maße gestiegen ist. Das lässt nur einen Rückschluss zu: Die Unternehmen halten an ihren Fachkräften fest – wahrscheinlich, weil sie fürchten, dass sie sie im Sommer nicht wiederbekommen, wenn sie ihre Leute jetzt entlassen würden. Zurzeit sehe ich deshalb keine "Abbruchkante" durch die Corona-Maßnahmen.
Der Hüter des Arbeitsmarkts
Detlef Scheele, geboren 1956, ist seit April 2017 Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit und somit zuständig für Deutschlands größte Behörde mit 96.000 Mitarbeitern. Er studierte Politik-, Sport- und Erziehungswissenschaften in Hamburg. Bevor er 2011 Arbeitssenator unter Olaf Scholz (SPD) wurde, leitete er verschiedene Hamburger Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften. 2015 wurde er in den Vorstand der Arbeitsagentur berufen, 2017 übernahm er den Vorsitz. Scheele ist verheiratet und hat drei Kinder.
Das heißt, auch der harte Lockdown von vor Weihnachten gefährdet das Arbeitsmarkt-Wunder nicht?
So wie es im Moment aussieht, nein. Die Regierungsbeschlüsse vom Dezember haben bislang zu keinem neuerlichen, erhöhten Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt, der über das übliche Muster zum Jahresbeginn hinausgeht. Und es deutet aktuell auch nichts darauf hin, dass es so kommt. Wir werden, Stand heute, keinen zweiten April 2020 erleben. Es wird in den kommenden Monaten voraussichtlich keinen erneuten sprunghaften Anstieg bei der Arbeitslosigkeit und bei der Kurzarbeit geben. Die Kurzarbeit steigt zwar, aber lange nicht so stark wie im vergangenen Frühjahr.
Haben Sie bei der Arbeitslosigkeit eine mögliche Welle an Unternehmensinsolvenzen schon einkalkuliert?
Ja, wir beobachten die Insolvenzen, orientieren uns aber weiter an den jüngsten Prognosen der Bundesregierung. Wir gehen nach wie vor davon aus, dass im Jahresschnitt rund 700.000 Menschen in Kurzarbeit sein werden und durchschnittlich 2,6 Millionen Menschen arbeitslos. Es gibt für uns aktuell keinen Grund, von dieser Schätzung abzuweichen.
Angesichts der Pleite von Ketten wie Adler oder Maredo dürfte das viele Menschen verwundern.
Das mag sein. Aber so ist es eben: Auch die Insolvenz von Adler und die Entlassungen bei Maredo bringen das langfristige Szenario nicht ins Wanken – auch wenn es jetzt kurzfristig mehr Arbeitslose geben mag und das für jeden Betroffenen individuell schlimm ist.
Könnten die jetzt neuen Arbeitslosen kurzfristig nicht auch an anderer Stelle zum Einsatz kommen – zum Beispiel bei unkomplizierten Aushilfsarbeiten in den Gesundheitsämtern, die über Personalmangel klagen?
Sicher, das ginge. Das Weitermelden von Corona-Fallzahlen, das Führen von Statistiken sind Aufgaben, die mancher bestimmt leicht übernehmen kann. Aber der Arbeitsmarkt funktioniert nicht mechanisch, die Qualifikation der Arbeitslosen muss auch zum Bedarf der Arbeitgeber passen. Wenn wir geeignete Arbeitslose haben, könnten wir sie für solche Tätigkeiten vermitteln. Dafür aber müssten die Kommunen die entsprechenden Aushilfsstellen ausschreiben. Das geschieht auch, ist aber von Region zu Region unterschiedlich.
Blicken wir auf die Zeit nach der Krise: Wie lange wird es dauern, bis jene, die durch Corona ihren Job verlieren, wieder eine Arbeit haben?
Wer qualifiziert ist, wird nach dem Lockdown, nach der Krise schnell wieder einen Job finden. Selbst bei den geringfügig Beschäftigten, die im Frühjahr arbeitslos wurden, zeigt sich, dass viele schon im Herbst wieder einen Job hatten. Der Arbeitsmarkt ist flexibel – das macht Hoffnung. Schwieriger dürfte es bei Angelernten werden sowie bei Ausländern und ehemaligen Geflüchteten mit schlechten Deutschkenntnissen. Hier haben wir schon die Sorge, dass eine ganze Reihe von Menschen langzeitarbeitslos werden könnten.
Dieser Anstieg zeigt sich ja schon jetzt.
Richtig. Wir hatten im Dezember knapp 930.000 Langzeitarbeitslose. Das sind rund 230.000 mehr als im Dezember 2019, ein Plus von mehr als 30 Prozent. Ich fürchte, wir werden deshalb mit einem erhöhten Sockel bei der Langzeitarbeitslosigkeit aus der Krise herausgehen.
Was genau heißt das?
Das heißt: Wir müssen uns erneut anstrengen. Wir waren schon einmal bei weniger als 700.000 Langzeitarbeitslosen. Wir müssen uns deshalb jetzt und nach der Corona-Krise anstrengen, diese Menschen noch besser zu qualifizieren, damit sie wieder in Lohn und Brot kommen. Die Instrumente dafür haben wir, auch am Geld mangelt es nicht. Momentan allerdings können wir kaum etwas anbieten. Wir kommen wegen des Lockdowns ja noch nicht einmal überall in die Weiterbildungseinrichtungen hinein.
Das klingt, als rechneten Sie mit einer Art Corona-Prekariat.
Nein. Es kann zwar vorübergehend mehr Menschen geben, die Grundsicherung beziehen. Aber das ist eben eine Folge der Krise. Wir werden uns bemühen, diese Menschen wieder in Arbeit zu bekommen.
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Was bedeutete die Krise für den Ausbildungsmarkt?
Das Ausbildungsjahr 2020 ist mit einem blauen Auge davongekommen. Wir konnten zwar weniger beraten, weil die Schulen im vergangenen Frühjahr geschlossen hatten. Dennoch haben im abgelaufenen Jahr 467.000 Jugendliche einen Ausbildungsvertrag abgeschlossen. Wir sehen deshalb keinen Jahrgang "Corona".
Der zweite Lockdown aber fällt nun genau in die Zeit der Ausbildungsvermittlung zwischen September und Mai.
Ja, das Ausbildungsjahr 2021 wird schwierig. Corona verschärft die Situation auf dem Ausbildungsmarkt. Schon vor der Pandemie hatten wir einen niedrigeren Stand an gemeldeten Lehrstellen. Jetzt suchen die Unternehmen noch weniger Auszubildende, zudem gibt es wegen des Lockdowns auch kaum Angebote für Praktika. Was die Ausweichstrategie der jungen Leute ist, wissen wir jetzt noch nicht. Im Jahr 2020 gingen viele einfach länger zur Schule. Nun befürchten wir, dass von diesen viele im Jahr 2021 eine Ausbildung absolvieren möchten. Für alle einen Platz zu finden, wird nicht leicht.
Was muss geschehen, um bei dieser Entwicklung gegenzulenken?
Ich werbe überall dafür, dass die Firmen trotz Corona Lehrstellen anbieten. Denn eines ist klar: Nach der Pandemie kehrt mit dem demografischen Wandel ein bekanntes Problem zurück. Die Pandemie wird hoffentlich Ende 2021 nicht mehr die Hauptrolle auf dem Arbeitsmarkt spielen, stattdessen geht es dann wieder darum, dass in vielen Betrieben Nachwuchskräfte fehlen.
Das heißt, Corona könnte den Fachkräftemangel auf lange Sicht verschärfen?
Nein. Demografie und Fachkräftemangel bleiben auf dem Arbeitsmarkt zwar die beherrschenden Themen – Corona verschärft die Probleme aber nicht zusätzlich. Es gilt dasselbe wie vor der Pandemie: Wir brauchen jährlich netto rund 400.000 Zuwanderer, um die Lücken auf dem Arbeitsmarkt langfristig zu schließen. Davon liegen wir weit entfernt. Derzeit gibt es sogar fast gar keine Zuwanderung.
In welchen Branchen werden denn die meisten ausländischen Arbeitskräfte gebraucht?
Vor allem in den Pflegeberufen. Aber auch im Handwerk, in der IT oder im Bereich Verkehr und Logistik sind wir auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen.
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Kritiker sagen, dass sich auch beim Arbeitslosengeld II nach der Krise einiges ändern muss, das Image von Hartz IV sei schlecht. Warum ist das so?
Ich halte es für unberechtigt, dass die Grundsicherung einen so schlechten Ruf hat.
Ach ja?
Ja. Welches Land in Europa bezahlt Bedürftigen quasi lebenslang – auf niedrigem Niveau – den Lebensunterhalt und den Wohnraum? Ich finde, wir haben eine gute Grundsicherung, die den Namen wirklich verdient.
Sie meinen wohl "großzügig", wie Sie es zuletzt einmal sagten.
Nein, da wurde ich falsch zitiert. Ich habe gesagt, dass die Kombination aus Grundsicherung und Übernahme der Mietkosten im Vergleich zu anderen Staaten großzügig ist. Dass der Regelsatz allein großzügig ist, ist nie über meine Lippen gekommen.
Halten Sie ihn denn für üppig?
Nein, der Regelsatz ist nicht großzügig.
Ein Kritikpunkt an Hartz IV ist auch, dass sich ein Nebenjob nicht lohnt. Wäre es nicht sinnvoll, die Corona-Krise zu nutzen, um die Freigrenzen für Nebeneinkünfte dauerhaft anzuheben?
Hier haben wir eine ganz spezielle Debatte.
Welche?
Wenn man die Freigrenzen erhöht, steigt die Zahl der Leistungsempfänger, also die der statistisch armen Menschen in Deutschland. Verständlicherweise ist das ein politisch heikler Punkt. Außerdem geht es auch um so etwas wie das Lohnabstandsgebot.
Und wenn man von der politischen Debatte einmal absieht?
Es ist so, dass ein höherer Zuverdienst den Übergang in bessere Beschäftigung fördern kann. Aber ein zwingender Zusammenhang ist das nicht. Die Politik steckt da in einer Zwickmühle.
Würden Sie sich denn persönlich dafür aussprechen?
Das müssen andere entscheiden. Das Ziel sollte in jedem Fall bleiben: Die Grundsicherung zu verlassen, ohne dass man auf eine ergänzende Leistung angewiesen ist.
Zum Abschluss eine persönliche Frage: Sie haben eigentlich noch einen Vertrag bis 2022, trotzdem soll der Verwaltungsrat der Arbeitsagentur bereits nach einem Nachfolger für Sie suchen, auch außerhalb der Behörde. Wie finden Sie das eigentlich?
Das ist Sache des amtierenden Verwaltungsrates und der Bundesregierung.
Herr Scheele, wir danken Ihnen für das Interview.
- Videointerview mit Detlef Scheele