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Schleichenden Deindustrialisierung?: "Wir sind viel zu langsam"


Wirtschaft schlägt Alarm
"Wir sind viel zu langsam"

Von dpa
Aktualisiert am 29.12.2022Lesedauer: 3 Min.
Szene am Hamburger Hafen (Symbolbild): Der Standort Deutschland verliert dem Industriepräsidenten Siegfried Russwurm zufolge an Wettbewerbsfähigkeit.Vergrößern des Bildes
Szene am Hamburger Hafen (Symbolbild): Der Standort Deutschland verliert dem Industriepräsidenten Siegfried Russwurm zufolge an Wettbewerbsfähigkeit. (Quelle: Lobeca/Ralf Homburg/imago images)

Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften gehen mit Sorgen ins neue Jahr. Deutschland habe viele Handicaps, warnt der Industriepräsident.

Die deutsche Wirtschaft sieht die zunehmende Gefahr einer schleichenden Deindustrialisierung in Deutschland – mit möglichen Folgen für viele Jobs. Industriepräsident Siegfried Russwurm sagte der Deutschen Presse-Agentur in Berlin, der Standort Deutschland habe zahlreiche "Handicaps" und verliere an Wettbewerbsfähigkeit.

"Wir sind viel zu langsam, Stichwort Genehmigungspraxis. Die Unternehmensteuern sind im internationalen Vergleich zu hoch", sagte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Es brauche mehr steuerliche Anreize für Investitionen in Deutschland. "Die Energiepreise sind überfrachtet mit Steuern und Abgaben. Das können wir uns nicht mehr leisten im globalen Wettbewerb. Die aktuelle Krise ist nicht nur eine kleine Konjunkturdelle. In der grünen und digitalen Transformation gibt es für die Regierung immense Aufgaben zu erledigen." So sollte die Bundesregierung ein umfassendes Bürokratieentlastungsgesetz umsetzen.

"Gefährliche Fehleinschätzung"

Russwurm warnte weiter, die Produktionsrückgänge in den energieintensiven Industrien in diesem Jahr seien ein Risiko für wichtige Wertschöpfungsketten. "Die Standortbedingungen für diese Branchen haben sich durch den Krieg und die Lage an den Energiemärkten dauerhaft verschlechtert. Aber uns sind die Instrumente abhandengekommen, diese Verschlechterung frühzeitig zu erkennen: Wir haben viele Jahrzehnte gelernt, dass die Arbeitslosenquote ein guter Indikator ist, wie es unserer Wirtschaft geht. Und plötzlich gilt diese Regel nicht mehr, weil wir mehr als 400.000 Arbeitskräfte netto jedes Jahr verlieren."

Aus dem Fachkräftemangel sei ein Arbeitskräftemangel geworden, so Russwurm. "Aber aus vielen offenen Stellen und hoher Beschäftigung den Schluss zu ziehen, der Industrie und dem Land gehe es gut, ist eine gefährliche Fehleinschätzung." Auch positive Ergebnismeldungen der letzten Zeit dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Unternehmen ihre Gewinne vor allem in ihren Auslandsgesellschaften machten.

DIHK-Präsident will weniger bürokratische Hemmnisse

Auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Peter Adrian, warnte, die Produktion könnte sich zunehmend ins Ausland verlagern. "In Amerika betragen die Strompreise ein Fünftel dessen, was wir jetzt hier in Deutschland aufbringen. Beim Gas ist es derzeit ein Siebtel", sagte Adrian. Eine Abwanderung von Industrieproduktion ins Ausland sei ein schleichender Prozess. "Wir werden einen Strukturwandel unserer Wirtschaft erfahren."

Adrian forderte, Deutschland und die EU müssten bürokratische Hemmnisse beseitigen und Planungsverfahren beschleunigen. "Das ist in anderen Ländern wesentlich einfacher und unkomplizierter, weil sie ziel- und lösungsorientiert arbeiten – während bei uns Unternehmen häufig die Erfahrung machen, dass ihnen Steine in den Weg gelegt werden." Das sei für Deutschland ein großes Ansiedlungshemmnis.

Gewerkschaften wollen Industrie-Strompreis mit Priorität behandeln

DGB-Chefin Yasmin Fahimi kündigte an, die Gewerkschaften würden die Fragen, wie wettbewerbsfähige Industrie-Strompreise sichergestellt werden könnten, im nächsten Jahr ganz vorne auf die Tagesordnung in den Gesprächen mit der Bundesregierung setzen. "Je tiefer die Schnitte in die Wertschöpfungskette werden, je mehr Unternehmen der Wertschöpfungskette Deutschland verlassen, desto dramatischer wird der Dominoeffekt sein."

Der Chef der Gewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, verlangte eine rundum neu entwickelte Industriepolitik für Deutschland und Europa. Nur so ließen sich die nötigen Anreize für ökologisch tragfähige Investitionen sowie den Erhalt von Arbeitsplätzen schaffen – und weitere Abwanderungen etwa nach China oder in die USA verhindern.

Habeck will 2023 der Industriepolitik widmen

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte Ende November eine aktivere Industriepolitik Deutschlands und der EU angekündigt. Das nächste Jahr stehe im Zeichen der Industriepolitik, so Habeck. Ziel sei es, die Standortsicherheit auszubauen und den grundlegenden Wandel hin zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft voranzutreiben.

Hintergrund ist auch das US-Inflationsbekämpfungsgesetz, das milliardenschwere Investitionen in den Klimaschutz vorsieht. Subventionen und Steuergutschriften sind daran geknüpft, dass Unternehmen US-Produkte verwenden oder selbst in den USA produzieren. Daran gibt es viel Kritik in Europa, wo man Nachteile für heimische Unternehmen befürchtet.

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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