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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Daten "Wäre ein Wunder, wenn wir bis April sinkende Zahlen sehen"
Bund und Länder wollen raus aus dem Lockdown. Statt Einschränkungen soll es mehr Tests und Impfungen geben. Mit der Umsetzung wird man sich beeilen müssen. Denn die Infektionszahlen steigen schon – trotz geltender Kontaktbeschränkungen.
Seit vier Monaten müht sich Deutschland damit ab, die Fallzahlen zu senken. Zeitweise klappt das sogar ganz gut. Ende Februar überwiegt aber in Teilen der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft die Ungeduld. Man will lockern und "raus aus dem Lockdown". Nur wie?
Bund und Länder haben einen neuen Plan
Dass die Fallzahlen trotz Einschränkungen steigen, ist offensichtlich. Dass sie von alleine wieder sinken, eher unwahrscheinlich. Das frühere Ziel von weniger als 50 oder gar 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen kann ohne zusätzliche Maßnahmen auf absehbare Zeit nicht erreicht werden. Um dem Handel trotzdem eine Öffnungsperspektive bieten zu können, haben Bund und Länder einen neuen Plan aufgestellt.
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Lockerungen sollen demnach auch bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von unter 100 möglich sein. Gemeint ist, dass bestimmte Einzelhändler, Kultureinrichtungen und Dienstleister unter Auflagen öffnen dürfen. Für Schulen und Kitas gibt es gar keine bundeseinheitlichen Vorgaben mehr; sie sollen auch unabhängig vom Infektionsgeschehen öffnen können.
Frühestens nach der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 22. März sind weitere Öffnungsschritte vorgesehen – aber nur, wenn sich Fallzahlen und Rahmenbedingungen bis dahin positiv entwickeln. Doch wie wahrscheinlich ist das? Schauen wir auf die Zahlen.
Positiver Trend hat sich umgekehrt
Wochenlang sah es gut aus für die Pandemiebekämpfung in Deutschland. Der Lockdown ab Mitte Dezember zeigte Wirkung. Doch seit Mitte Februar steigen die Corona-Fallzahlen wieder – erst unmerklich, jetzt immer deutlicher. Der bundesweite Trend bestätigt sich beim Blick auf die folgende Landkarte. Sie zeigt, in welchen Landkreisen die Sieben-Tage-Inzidenz zuletzt zu- oder abgenommen hat.
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Dabei sieht man, dass der Anstieg nicht auf einzelne Ausbrüche zurückzuführen ist. Mehr als die Hälfte der Landkreise (229 von 412) hat mittlerweile mit steigenden Fallzahlen zu kämpfen. Mitte Februar waren es mal weniger als 70. Der direkte Vergleich zeigt den Unterschied.
Dabei hat sich an den Rahmenbedingungen in diesem Zeitraum wenig geändert. An den jüngsten Schulöffnungen kann der Anstieg nicht liegen; diese schlagen sich möglicherweise erst in den kommenden Tagen in den Zahlen nieder. Das gleiche gilt für Friseurtermine, die seit diesem Monat vereinbart werden können und unter Auflagen stattfinden.
Ansteckendere Varianten heizen die Pandemie an
Eine mögliche Erklärung lautet, dass die Diskussionen um anstehende Lockerungen bereits zu einer Verhaltensänderung in der Bevölkerung geführt haben könnten. Hinzu kommt eine gewisse Corona-Müdigkeit und die Hoffnung auf die rettende Wirkung der Impfstoffe. Die Menschen werden womöglich nachlässiger und haben wieder mehr Kontakte.
Eine weitaus größere Rolle dürfte aber der Verbreitung der ansteckenderen Corona-Mutationen zukommen. Schätzungen zufolge macht die "britische" Variante B.1.1.7 bereits rund 50 Prozent der Fälle aus. Auch ohne Lockerungen kommt es dadurch zu mehr Ansteckungen und einem exponentiellen Anstieg der Fallzahlen, der sich allmählich ankündigt und bald an Fahrt gewinnt, wenn man nicht gegensteuert.
"Notbremse" greift ab Inzidenz 100
Die Politik hat andere Pläne. Es soll geöffnet werden – mit Bedacht, wie die Länderchefs gerne betonen. Steigt die Sieben-Tage-Inzidenz auf mehr als 100, soll wieder der Lockdown-Zustand von Anfang März hergestellt werden. Doch diese "Notbremse" wird den Anstieg wohl bestenfalls abschwächen, den Trend aber nicht umkehren können. Schließlich scheinen die Maßnahmen unter dem Einfluss von B.1.1.7 und anderen Varianten auch jetzt schon nicht auszureichen.
Der Beschlusstext lässt außerdem offen, ob die Inzidenz auf Landes- oder Landkreisebene herangezogen werden soll, bevor die Notbremse gezogen wird. Wörtlich heißt es:
"Steigt die 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner an drei aufeinanderfolgenden Tagen in einem Bundesland oder einer Region auf über 100, treten ab dem zweiten darauffolgenden Werktag die Regeln, die bis zum 7. März gegolten haben, wieder in Kraft."
Von 16 Bundesländern betrifft das derzeit nur ein einziges: Thüringen. Auch unter den Landkreisen überschreitet eine Minderheit die neu festgelegte Obergrenze. Doch ihre Zahl hat zuletzt wieder zugenommen, wie die folgende Grafik zeigt.
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Nur noch etwa ein Drittel aller Landkreise weist eine Inzidenz von unter 50 auf. In dieser Gruppe wäre dem neuen Beschluss zufolge Sport im Freien und in kleinen Gruppen demnächst erlaubt (Hier finden Sie eine Übersicht mit den Regeln). Dazu muss die Lage allerdings "stabil" sein, heißt es in dem Bund-Länder-Beschluss.
Modellrechnung: So könnte es weitergehen
Jeder Öffnungsschritt bedeutet mehr Kontakte. Mehr Kontakte bedeuten mehr Ansteckungen. Die Politik will vor allem mit Schnelltests und verstärktem Impfen gegensteuern und hofft, so das Infektionsgeschehen unter Kontrolle halten zu können. Auch die steigenden Temperaturen könnten helfen, weil sich die Menschen wieder mehr im Freien aufhalten. Doch reicht das aus, um eine Rückkehr in den alten Lockdown-Modus zu verhindern?
Der Physiker und Datenwissenschaftler Cornelius Römer hat für t-online Modellrechnungen entworfen, in denen die verschiedenen Faktoren berücksichtigt werden. Im wahrscheinlichsten Szenario, dem mittleren, sorgen Mutationen und Lockerungen dafür, dass die neue Inzidenzschwelle von 100 im bundesweiten Durchschnitt vermutlich schon in ein bis drei Wochen überschritten wird – trotz Impfkampagne und guter Wetterlage.
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Eine Kombination aus zu schnellen Lockerungen, ansteckenderen Varianten und geringem Frühjahrseffekt könnte den Anstieg deutlich beschleunigen. In diesem Worst-Case-Szenario sind Anfang April dann sogar mehr als 23.000 Neuinfektionen pro Tag denkbar, was einer Sieben-Tage-Inzidenz von etwa 200 entspricht.
Lässt sich die dritte Welle aufhalten?
Für das dritte Szenario geht Römer von extrem günstigen Bedingungen aus: Die Mutanten sind weniger ansteckend als befürchtet, das Wetter hilft enorm, die Lockerungen lassen den R-Wert kaum steigen. Zudem wird das Impftempo drastisch erhöht. Dass all das eintritt, sei extrem unwahrscheinlich, meint Römer – würde aber als einziges der drei Szenarien zu sinkenden Fallzahlen führen.
Und was ist mit den Schnelltests, die die Bundesregierung verstärkt einsetzen will? Langfristig sei es zwar möglich, dass sich das Infektionsgeschehen dadurch besser kontrollieren lasse. "Zuerst einmal wird es aber dazu führen, dass man mehr Fälle findet", sagt Römer. Wenn dann bei Inzidenz 100 die "Notbremse" gezogen wird, vergehen zwei Wochen, bis sich eine Wirkung in den Zahlen zeigt.
"Es wäre schon ein großes Wunder, wenn wir bis April sinkende Zahlen sehen", so Römers Schlussfolgerung. Auch in Österreich zeige sich derzeit, dass Schnelltests "kein Allheilmittel" seien, wenn man zugleich die Schulen und Geschäfte öffnet. Dort steigen die Fallzahlen nach einer kurzen Phase der Stagnation Anfang Februar wieder deutlich an. Eine ähnliche Entwicklung stehe nun Deutschland bevor.
Biergärten bleiben wohl geschlossen
Der Ausblick auf den bundesweiten Trend schließt natürlich nicht aus, dass es einzelnen Regionen in Deutschland gelingt, das Virus zurückzudrängen und weitere Öffnungsschritte in Angriff zu nehmen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sich eine erneute Eintragung auf Dauer kaum verhindern lässt, wenn das Umland das Virus nicht ebenso im Griff hat.
Die viel zitierten Öffnungsperspektiven existieren also vorerst nur auf dem Papier. Wenn sich Bund und Länder an ihren eigenen Plan halten, müssen die wenigen geplanten Öffnungsschritte voraussichtlich in einigen Wochen schon wieder zurückgenommen werden, noch bevor die nächste Stufe erreicht ist. Auch die Außengastronomie müsste dann vielerorts geschlossen bleiben. Sobald die Temperaturen steigen und die Sonne öfter scheint, wird das besonders bitter und wahrscheinlich erneut für Diskussionen sorgen.
- Eigene Berechnungen
- 3. Bericht des RKI zu den Corona Varianten
- Beschluss von Bund und Ländern zur Corona-Lage