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Kommentar: Der Digitale Impfpass ist nicht das Ticket in die Normalität


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Pilotprojekt in Bayern
Warum der digitale Impfpass kein Ticket in die Normalität sein kann

MeinungEin Gastbeitrag von Jürgen Geuter

Aktualisiert am 26.01.2021Lesedauer: 4 Min.
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Aufreger: Dieser bayerische Landkreis vergibt schon digitale Impfausweise. (Quelle: Reuters)
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Das bayerische Altötting stellt seinen Bürgern auf Wunsch bereits digitale Corona-Impfpässe aus. Der Informatiker Jürgen Geuter warnt in einem Gastbeitrag für t-online vor Sicherheitsproblemen und gesellschaftlichen Verwerfungen.

Je länger die Coronavirus-Pandemie in Europa wütet, desto größer wird der Wunsch nach einer einfachen Lösung, um endlich wieder "Normalität" herzustellen – selbst wenn der Nutzen dieser Lösung von Experten zu Recht angezweifelt wird. So war es schon bei der Corona-Warn-App. Jetzt werden erneut Forderungen laut, die für mich als Informatiker undurchdacht und gefährlich klingen.

So sollen die Impfungen von Personen nicht nur in deren papierbasierten Impfpässen dokumentiert, sondern auch elektronisch auslesbar umgesetzt werden. Der Landkreis Altötting prescht sogar schon mit einem digitalen Impfzertifikat voran. Die Betroffenen sollen damit den Nachweis ihrer Corona-Impfung irgendwie mit einer Smartphone-App verifizieren können, um … ja, um was zu tun eigentlich?

Goldenes Ticket zur Normalität

Der Zweck digitaler Impfnachweise ist ganz offensichtlich nicht der gleiche wie beim Impfpass auf Papier. Es geht hier nicht um eine Erinnerungsstütze für Patienten, damit sie nicht vergessen, vor welchen Krankheiten sie geschützt sind und wann es Zeit für eine Auffrischung wäre.

Vielmehr sollen andere – zum Beispiel Fluggesellschaften, Grenzkontrollen, Restaurants, Freizeitparks und so weiter – diese digitalen Zertifikate nutzen, um den betreffenden Personen Zugang zu gewähren oder zu verwehren. Digitale Impfpässe sollen das "Immunkapital" einer Person so sicher zertifizieren, dass ihr das "normale" Leben wieder offen steht.

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Die Frage, ob Menschen direkt nach der Impfung schon wieder mehr Normalität genießen sollen als alle anderen, sorgt für Streit – schließlich handelt es sich im Moment noch um ein rares Privileg, überhaupt eine Impfung zu bekommen. Für manche genügt die Feststellung, dass Rechtseinschränkungen Gründe brauchen – und dass diese mit einer Impfung aufgehoben sind.

Andere – wie ich zum Beispiel – argumentieren eher für einen Weg, in dem auch immunisierte Menschen auf gewisse Bewegungsfreiheit und Kontakte verzichten, bis die Pandemie unter Kontrolle gebracht ist. Das wäre nicht nur ein wichtiges Zeichen der Solidarität, sondern würde auch verhindern, dass ein Schwarzmarkt für Covid-19-Impfungen entsteht. Dass das eine realistische Option ist, sieht man gerade in Österreich, wo sich bereits diverse Bürgermeister widerrechtlich Zugang zu Impfungen erschlichen haben.

Impfzertifikate lösen kein Problem – sie schaffen welche

Aber selbst wenn man sich der Argumentation anschließt, dass es Unrecht wäre, die Freiheit von Geimpften weiter zu beschränken, stellen digitale Impfzertifikate keine Lösung dar, sondern schaffen vielmehr neue Probleme.

Für den digitalen Impfpass reicht es nämlich nicht, einfach nur eine App zu entwickeln. Um den Immunstatus einer Person elektronisch zu erfassen und beispielsweise mit digitalen Einlasskontrollen zu verknüpfen, braucht es eine neue Infrastruktur – also ein robustes System, das über jeden Zweifel erhaben ist und seinen Dienst so zuverlässig tut, dass wir es die meiste Zeit nicht einmal bemerken.

Eigentlich nehmen wir Infrastrukturen nämlich vor allem wahr, wenn sie kaputt sind: Wenn unser DSL zickt und wir nicht ins Netz kommen, wenn der Strom ausfällt oder wenn wir im Krankenhaus trotz großer Schmerzen lange warten müssen. Auch beim digitalen Impfpass wären selbst gelegentliche Ausfälle nur schwer hinnehmbar. Gleichzeitig wird man sie auch nie ganz verhindern können.

Ein Freifahrtschein, der an der Landkreisgrenze endet

Die Infrastruktur hinter den digitalen Impfnachweisen müsste zudem global funktionieren. Denn welchen Sinn ergibt ein Freifahrtschein, der außerhalb der Landkreisgrenze keine Gültigkeit besitzt? Um Reisen zu ermöglichen, müssten globale Standards geschaffen werden, die alle teilnehmenden Länder implementieren. Das lässt sich auf der technischen Ebene noch mit einem gewissen Aufwand realisieren.

Was sich jedoch nicht so leicht beseitigen lässt, ist ein Phänomen, das wir Informatiker und Informatikerinnen das "Orakel-Problem" nennen. Es beschreibt die Schwierigkeit, für einen digitalen Eintrag in einer Datenbank zu entscheiden, ob das, was er beschreibt, auch stimmt. So könnte ich in eine digitale App eintragen, ich wäre 35 Jahre alt. Wer mich trifft, kann schwer wissen, ob das stimmt oder nicht. Mit digitalen Impfpässen hätten wir genau dasselbe Problem.

Falsche Impfpässe so einfach und so billig wie Phishing-Mails

In Altötting funktioniert es beispielsweise so: Mit der Impfkarte wird ein QR-Code ausgegeben. Dieser leitet auf eine Seite weiter, die das Impfzertifikat validieren soll. Dabei ist es völlig trivial, den QR-Code so zu manipulieren, dass er auf eine gefälschte Seite leitet, die genau wie das Original aussieht und eine nicht erfolgte Impfung zertifiziert. Dass dieser Angriff realistisch ist, sehen wir täglich am Erfolg von so genannten Pishing-E-Mails, die Menschen auf gefälschte Seiten locken, um ihre Passwörter oder Bankdaten abzugreifen.

Natürlich werden die meisten Teilnehmer im System keine ausgefuchsten Onlinebetrüger sein, sondern aufrichtige Bürger. Doch es wird auch jene geben, die das System austricksen wollen und für sich oder andere falsche digitale Impfpässe ausstellen. Diese Personen könnten sich plötzlich frei bewegen, das Virus verbreiten und insbesondere jene anstecken, die sich nicht durch eine Impfung schützen können.

Wir hätten neben dem Schwarzmarkt von Impfungen nun auch noch einen Schwarzmarkt für die wertvollen Zertifikate, die nicht nur Zugang zu Freizeitmöglichkeiten ermöglichen, sondern auch vielen Menschen das Arbeiten überhaupt erst wieder erlauben.

Über den Autor:
Jürgen Geuter alias @tante beschäftigt sich als unabhängiger Theoretiker mit soziotechnischen Systemen, insbesondere mit den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Einführung und Nutzung von Technologien. Er schreibt für verschiedene nationale und internationale Publikationen und ist Gründungsmitglied des transdisziplinären Otherwise Network, welches sich mit Fragen der Digitalisierung beschäftigt.

Pandemien löst man nicht im App Store

Entgegen des weit verbreiteten Narrativs ist eine Pandemie kein "Kampf", sondern eine Herausforderung, der die Gesellschaft mit Solidarität, Fürsorge und Mitmenschlichkeit begegnen muss. Nur so können wir sie überwinden. Ähnlich wie bei der Klimakrise können wir nicht einfach hoffen, durch das Ausrollen irgendeiner Technologie ein komplexes soziales und politisches Problem zu lösen.

Digitale Impfpässe wollen eine Art von Normalität herstellen, auch wenn sie nur ein Abklatsch ist. Dabei versprechen sie eine Sicherheit, die sie nicht garantieren können und etablieren eine neue, dauerhafte Infrastruktur, über deren langfristige Auswirkungen gerade unter dem Eindruck der Pandemie gerade niemand so genau nachdenken will. Wie wir schon aus der Corona-Warn-App gelernt haben sollten, wäre es zielführender, die vorhandenen Ressourcen in die Produktion und Logistik der Impfungen zu investieren statt in digitale Spielereien.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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