Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online."Russen im Ausland warnen" Putin-Berater nennt konkrete Ziele für einen Atomschlag
Er gilt als einflussreicher Berater Wladimir Putins: Sergej Karaganow hat sich für eine nukleare Eskalation ausgesprochen. Er nennt auch konkrete Angriffsziele.
Sergej Karaganow ist ein gebildeter Mann. Der Politikwissenschaftler wurde mit zahlreichen akademischen Ehren ausgezeichnet, er hat die russischen Präsidenten Boris Jelzin und Wladimir Putin beraten, ist stellvertretender Direktor des Europa-Instituts an der Akademie der Russischen Wissenschaften und Ehrenvorsitzender des Rates für Außen- und Sicherheitspolitik, einer Denkfabrik für Sicherheitsanalysen. Karaganow ist darüber hinaus ein großer Befürworter des völkerrechtswidrigen Überfalls Russlands auf die Ukraine.
Nun hat sich der 70-jährige Ideologe dafür ausgesprochen, den Ton Russlands gegenüber dem Westen deutlich zu verschärfen. So solle Diktator Wladimir Putin den westlichen Verbündeten der Ukraine nicht nur mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohen, sondern diesen explizit in Erwägung ziehen, um deren Unterstützung für das von Russland angegriffene Nachbarland aufzugeben. In einem Aufsatz, den Karaganow zunächst im russischen "Profile Magazine" und dann auf der kremlnahen Onlineplattform "Global Affairs" veröffentlichte, schreibt er von einer "schwierigen Entscheidung", die Putin dahingehend treffen müsse.
Sogleich führt er aus, was sein raunender Ton impliziert: eine Konfrontation mit dem Westen, wenn nötig auch mittels einer nuklearen Eskalation. "Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Auseinandersetzung mit dem Westen nicht mit einem teilweisen oder gar mit einem überzeugenden Sieg in der Ukraine beendet sein wird."
"Abschreckungsleiter so schnell wie möglich hochklettern"
Karaganow, der beste Beziehungen zum Kreml unterhält und auch häufig im russischen Fernsehen zu sehen ist, sieht den Westen auf einem jahrhundertelangen Irrweg und die freiheitlichen Gesellschaften spätestens seit den 1960er-Jahren in "kontinuierlichem Verfall" begriffen.
Insbesondere die USA sieht er als Repräsentant einer liberalen Gesellschaftsordnung, die dem Untergang geweiht ist. Sowohl deren kosmopolitische (vertreten durch Joe Biden) als auch nationalistische Eliten (vertreten durch Donald Trump) hält er für schwach. Sie sind ihm zufolge moralisch, politisch und wirtschaftlich korrumpiert. Deshalb müsse der Westen in seinem Versuch gestoppt werden, die "Geschichte umzukehren" und "die Weltherrschaft zu erringen". Und zwar mit Atomwaffen.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Der Politikwissenschaftler, der bei öffentlichen Auftritten stets in exquisiten Maßanzügen und mit teuren Uhren am Handgelenk erscheint, glaubt zu wissen, was zu tun ist. "Wir müssen die Abschreckungsleiter so schnell wie möglich hochklettern ... wir haben lange genug abgewartet und verhandelt. Der Preis für ein Zögern wird ungleich höher sein, wenn wir jetzt nicht handeln."
Deshalb sei es notwendig, einen Atomkrieg ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Die ersten Maßnahmen dazu hätten der russische und belarussische Präsident bereits unternommen, indem sie die nuklearen Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt haben. Nun sollten alle russischen Staatsbürger im Ausland und jene, die Russland wohlgesonnen seien, gewarnt werden, falls sie in der Nähe von strategischen Zielen der russischen Armee leben.
"Es wird der Moment kommen, an dem wir unsere Landsleute dringend dazu auffordern müssen, die Orte zu verlassen, an denen sie derzeit leben, falls diese Orte in solchen Staaten liegen, die das Marionettenregime in Kiew unterstützen." Als mögliche Ziele für russische Interkontinentalraketen nennt er etwa die amerikanische Ostküsten-Metropole Boston oder die polnische Stadt Posen, die circa 250 Kilometer von Berlin entfernt liegt.
Karaganow geht davon aus, dass ein "Armageddon"-Szenario, bei dem auf einen Atomschlag sogleich der nukleare Gegenschlag erfolgt, nicht eintreten wird, weil etwa US-Präsident Biden dieses Risiko nicht eingehen würde. Zugleich analysiert er in zynischer Dialektik, dass die westlichen Gesellschaften den "Horror" des Zweiten Weltkrieges und die Vernichtungswirkung von Atomwaffen wohl schon vergessen hätten, ansonsten hätten sie sich nicht, wie im Falle der Ukraine, mit der Nuklearmacht Russland angelegt.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Aufschlussreich ist die Begründung für den Verzicht auf einen Vergeltungsschlag des Westens, mit der Karaganow argumentiert. Seiner Meinung nach würden etwa die USA nicht riskieren, dass eine ihrer Großstädte von russischen Atombomben ausradiert wird, nur weil der Kreml zuvor etwa das polnische Posen angegriffen habe (was automatisch den Nato-Bündnisfall zur Folge hätte).
Damit bezieht er sich also implizit auf eine Ausweitung des Ukraine-Kriegs auf die europäischen Anrainerstaaten. Dies könnte durch den Einsatz taktischer Nuklearwaffen mit geringerer Reichweite eintreten. Diese Option gilt unter Experten als die wahrscheinlichste, obwohl die meisten Fachleute es für sehr unwahrscheinlich halten, dass Putin diesen Schritt tatsächlich wagen würde.
"Schmidt und Kohl sind sofort in ihren Bunker geflüchtet"
Russland ist laut Karaganow die auserwählte Nation, die den Westen an ihren Platz in der Geschichte weisen muss – indem es notfalls auch Atomwaffen benutzt. Der 70-jährige Präsidentenberater schwärmt geradezu von Atomwaffen als "göttlicher Intervention". Nur Russland sei unter Wladimir Putin in der Lage zu einem solchen Schritt, weil er ihn im Gegensatz zu anderen politischen Führern nicht fürchte. "Ich weiß, dass etwa die Kanzler Schmidt und Kohl sofort in ihren Bunker geflüchtet sind, als diese Frage (Anm. d. Red.: nach einem Atomkrieg) bei einer militärischen Übung aufkam."
Die Ukraine, so Karaganow, müsse "befreit" werden von der "Junta" (Anm.: nach einem Putsch gebildete Regierung) in Kiew und einer "ultranationalistischen Bevölkerung", sodann müsse das ganze Land in das russische Reich eingegliedert und jegliche nationalistischen Umtriebe beseitigt werden. Für diesen Prozess der ideologischen Erneuerung – Karaganow nutzt an der Stelle das religiös konnotierte Wort "Erlösung" – veranschlagt er mindestens ein Jahrzehnt.
Wie Karaganow es in seinem mit allerhand totalitaristischem Gedankengut unterfüttertem Pamphlet sieht, ist der Ukraine-Krieg nicht von Putin vom Zaun gebrochen worden, sondern vom Westen. Er benutze die Ukraine als "stählerne Faust", um aus "purem Hass" heraus einen ausgewachsenen Krieg im "Vorhof einer Atommacht" zu entfachen. Russland könne der Menschheit hingegen die Chance zur Erneuerung geben, indem es den russischen Traum verwirkliche, sowohl spirituell, politisch, kulturell, wirtschaftlich als auch militärisch.
Erschreckend simple Motivation hinter dem Säbelrasseln
In der russischen Außen- und Sicherheitspolitik ist Karaganow einflussreich. So entwickelte er bereits in den 90er-Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, eine nach ihm benannte Doktrin, nach der Russland sich als Verteidiger der Menschenrechte ethnischer Russen im Ausland verstehe und auf diese politischen Einfluss etwa in den baltischen Staaten ausüben solle. Auch vertritt er die Position, dass Russland zur neo-imperialen Ordnungsmacht für "gescheiterte" Staaten, etwa auf dem afrikanischen Kontinent, werden soll.
Der Politikwissenschaftler gilt auch als einer der entscheidenden Vordenker für Putins Außenpolitik. Sein Einfluss auf den russischen Alleinherrscher ist groß. So entwarf er die "Putin-Doktrin". Darin preist er unter anderem die "konstruktive Zerstörung" der bisherigen Beziehungen zum Westen und den Weg Russlands zur "Zivilisation aller Zivilisationen", wie er der "New York Times" sagte.
Seine neuerlichen Ausführungen, denen er den Titel "Eine schwierige, aber notwendige Entscheidung" gegeben hat, zeugen von einem ausgeprägten Wunsch nach Eskalation. Seine erschreckend simple Motivation hinter dem Säbelrasseln benennt er auch: "Der Westen soll, um es mal ganz platt zu sagen, einfach abzischen."
Der deutsche Nuklearexperte Ulrich Kühn, Leiter des Forschungsbereichs Rüstungskontrolle und Neue Technologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg, hat seine Einschätzung von Karaganows Thesen bei Twitter unmissverständlich geäußert. "Vielleicht sollten wir ihn nicht mehr einen Experten oder Wissenschaftler nennen, sondern das, was er wirklich ist: einen gefährlichen Brandstifter."
- profile.ru: "Применение ядерного оружия может уберечь человечество от глобальной катастрофы" (englisch)
- eng.globalaffairs.ru: "A Difficult but Necessary Decision" (englisch)
- newstatesman.com: "Russia cannot afford to lose, so we need a kind of a victory": Sergey Karaganov on what Putin wants" (englisch)
- tagesspiegel.de: "Interview mit Putins Vordenker: "Die Demokratie in ihrer jetzigen Form wird im Großteil Europas nicht überleben""
- nytimes.com: "Why Russia Believes It Cannot Lose the War in Ukraine" (englisch)
- daiymail.co.uk: "Kremlin should ramp up nuke scare tactics in bid to force West to back down over Ukraine support - including telling Russian ex-pats to leave vicinity of nuclear weapon targets, says hardline Putin ally" (englisch)
- thetimes.co.uk: "Putin deploys nuclear weapons in response to Ukraine counteroffensive" (englisch)