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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der "Tatort"-Faktencheck Kann man einen Krimi improvisieren?
Ein Menschenknöchlein steckt im vegetarischen Dinner – da können einem schonmal die Gesichtszüge verrutschen. Das Ludwigshafener Team um Lena Odenthal hat sich zum Coaching in den Schwarzwald zurückgezogen, da soll an der Kommunikation gearbeitet werden. Wie passend – denn die Dialoge sind improvisiert. Aber geht das überhaupt, bei einem Krimi? t-online.de macht den Faktencheck.
Haben die ihren Text nicht gelernt? War dafür keine Zeit? Oder warum reden die Odenthal und ihre Kollegin Johanna Stern (Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs: Lisa Bitter) so eigenartig unfertig miteinander?
Nein, Schlamperei ist das nicht, sondern Improtheater. Zumindest eine Fernsehvariante davon. Wie beim ersten "Tatort" von Axel Ranisch – "Babbeldasch" von 2017 – wurden die Dialoge (Autor: Sönke Andresen) von den Darstellern improvisiert. Gedreht wurde chronologisch, und auch die Schauspieler kannten den Handlungsablauf noch nicht. Ranisch, 1983 in Berlin geboren, studierte an der HFF Konrad Wolf Regie, als seinen filmischen Ziehvater nennt er Rosa von Praunheim.
Vielleicht aber hat Ranisch auch viel Edgar Wallace angeschaut. Denn so düster altmodisch ist die Atmosphäre im gruseligen Lorenzhof, in dem sich das Ludwigshafener Kriminalteam einfindet. Eher ein Wirtshaus im Spessart als ein Wellnesshotel, es war "ein Schnäppsche", sagt Frau Keller (changiert zwischen Nervosität und Tai Chi: Annalena Schmidt). Hier soll das Team an einem Coachingwochenende mit einem Team-Trainer an der Team-Bildung – ohne Kopper! – und an der Kommunikation arbeiten. Das ist hübsch ausgedacht, weil eben die Kommunikation und die Gespräch so glaubwürdig holpern.
Die kreuzfidele Truppe rückt an, ist aber bald gefangen wie in einem Escape-Spiel. Lena Odenthal (so schön genervt: Ulrike Folkerts) echauffiert sich über das "morbide Krimidinner", verdächtigt den Coach, alles eingefädelt zu haben. Bis sich das Personal dezimiert wie in Agatha Christies legendärem Krimi "Und dann gab's keines mehr".
Denn am selben Ort geschah vor vielen Jahren ein bislang ungeklärtes Verbrechen. Der Besitzer, "Ich habe keine Freunde"-Humpe, saß zwölf Jahre im Knast für den Mord an seiner Schwägerin, sein Bruder ist bis heute verschollen. Doch die Nichte Doro – schwer angeschlagen – ist von der Unschuld ihres Onkels überzeugt. Die Bösen im Spiel sind am Ende die Dorfpolizisten: Er, Jörn Brunner, ist für den alten Mord verantwortlich, seine Angetraute Elli für die aktuellen Todesfälle. Außerdem geistert durchs Haus noch eine alte Diva und Geldgeberin, sowie ein schwer atmender Kameramann, der die Zuschauer auf die falsche Fährte lockt. Denn es ging dann doch alles mit rechten Dingen zu, übersinnliche Kräfte waren hier nicht am Werk.
Gedreht wurde in Loßburg im Nordschwarzwald – aber wie darf man sich so eine Impro-Krimiarbeit vorstellen?
Der Faktencheck
Nachgefragt bei Michael Wolf, geboren im Schwarzwald, Gründungsmitglied der Gorillas, Berlins bekanntestem Impro-Theater. Wolf studierte Schauspiel und Regie, arbeitete beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen und bei RTL und lehrt heute an der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelsson-Bartholdy" in Leipzig.
t-online: Herr Wolf, das Konzept von Autor Sönke Andresen gibt für diesen "Tatort" keine Dialoge vor. Wie hat man sich solche Dreharbeiten vorzustellen?
Michael Wolf: Wenn sich der Kollege Sönke Andresen dafür entschieden hat, ohne feste Dialoge zu arbeiten, bedeutet das nicht gleich, dass er auch auf eine Storyline verzichtet hat. Was kann sich der Leser darunter vorstellen? Die Storyline ist so etwas, wie ein vorgegebener Handlungsstrang. Der Schauspieler wird sich an diesem Strang orientieren, er weiß, wo er zu beginnen und zu enden hat. Er weiß, welche Geschichte er erzählen muss, und welche Aussage er zu treffen hat. Er bleibt aber Herr über seine eigene Wortwahl, den Dialogtext.
Es wurde chronologisch gedreht – heißt das, dass die Schauspieler immer nur so viel wissen wie die Zuschauer?
Wenn Autor und Regisseur sehr mutig waren, haben sie auf diese Storyline verzichtet und die Figuren nur mit einem Rollenprofil ausgestattet. Dies würde für eine chronologische Drehfolge sprechen. Man erschafft eine Ausgangssituation und lässt die Figuren die Geschichte entwickeln. Es sind dann die Figuren, die den nächsten Drehort, die zeitliche Verlagerung bestimmen. Der Schauspieler hätte dann sogar die Macht, neue Figuren zu etablieren, er hätte die gesamte schöpferische Macht. Dazu benötigt es aber Schauspieler mit großem improvisatorischen Denkvermögen. Der Schauspieler übernimmt die Arbeit des Autors und sogar ein Stück der Regiearbeit.
Welche Voraussetzungen müssen Schauspielerinnen und Schauspieler mitbringen, um gutes Impro-Theater auf die Beine zu stellen?
Sie müssen neben einer gewissen Begabung die Gesetzmäßigkeiten der Improvisation verstehen. Dass wir improvisieren bedeutet nicht gleich "alles ist möglich". Ein Schauspieler, der improvisiert, muss z.B. in der Lage sein, alle Angebote seines Gegenübers zu akzeptieren. Er muss den Status seines Gegenübers erkennen und seine Figur dementsprechend anpassen.
Welche weiteren Anforderungen stellen sich?
Vor allem aber müssen die Schauspieler Kenntnisse über das Storytelling mitbringen. Das bedeutet, sie sollten wissen, wie Geschichten aufgebaut werden und müssen dieses Wissen auch anwenden können. Viele Schauspielschulen haben mittlerweile erkannt, dass die Improvisation im Theater wie im Film einen anderen Stellenwert eingenommen hat. Sie haben reagiert und ihren Unterricht daraufhin angepasst.
Was ist Ihrer Ansicht nach der Vorteil von solcherart improvisierten Dialogen?
Wenn wir vom Film sprechen, so könnten wir vielleicht sagen, dem Zuschauer ist es letztendlich egal, ob der Film geskriptet oder improvisiert ist. Hauptsache er sieht eine gute Story. Die Improvisation hat aber die Möglichkeit, den wahrhaftigeren Moment vor die Kamera oder auf die Bühne zu bringen.
Ist es nicht besser, wenn die Protagonisten ordentliche Texte haben?
Das Unvorhersehbare überrascht uns im Leben. Durch die Improvisation bringen wir den Überraschungsmoment, das nicht Wiederholbare, auf die Bühne oder vor die Kamera. Improvisation ist also einzigartig und nicht reproduzierbar. Das ist für mich das Spannende an der Arbeit. Wenn dieser Funke auf den Betrachter überspringt, wird die Improvisation legitimiert.