Realitätscheck zum "Tatort: Freitod" "Da ist die Fantasie mit den 'Tatort'-Autoren durchgegangen"
Ein schöner Todesengel steht der Angst vor unheilbarem Leid und dem eigenen Tod gegenüber. Der Schweizer "Tatort: Freitod" hat sich mit Sterbehilfe ein schwieriges Thema gewählt und ordentlich umgesetzt - aus dramaturgischer Sicht zumindest. Im Realitätscheck bleiben allerdings einige Fragezeichen.
Sterbetourismus spielt in diesem Krimi eine Rolle. Eine todkranke Österreicherin fährt in die Schweiz, um Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Im Film heißt die fiktive Organisation "Transitus". t-online.de hat vor der Ausstrahlung die echten Schweizer Organisationen "Exit" und "Dignitas" befragt, die beide seit rund 30 Jahren existieren und Beratung rund um das Sterben anbieten, von Patientenverfügung bis zu Sterbebegleitung. Keine der beiden Organisationen wurde im Vorfeld von den "Tatort"-Machern angesprochen oder in die Recherchen einbezogen. Wir haben acht Fakten aus dem "Tatort" gecheckt.
Fakt 1: Gibt es einen Sterbetourismus in die Schweiz?
"Exit hilft keinen Sterbenden aus dem Ausland. Schon gar nicht aus Deutschland, dort steht ja schon auf die 'Förderung' der Selbsttötung drei Jahre Gefängnis. Die 'Tatort'-Autoren müssen die fiktive Organisation 'Transitus', wenn überhaupt, an andere der Schweizer Organisationen angelehnt haben", betont Exit-Geschäftsführer Bernhard Sutter.
Fakt 2: Kann man sich einfach für eine Sterbebegleitung entscheiden?
"Es kann keinen Film geben, der das mehrmonatige Vorbereitungsprozedere und den ganzen Tag der Freitodbegleitung darstellt. Ein Krimi, eine Unterhaltungsserie wie 'Tatort', kann das sowieso nicht - muss auch nicht und es ist auch nicht das richtige Gefäß dafür", erklärt die Organisation Dignitas.
Fakt 3: Gibt es eine Nähe der Sterbebegleiter zu sogenannten Todesengeln?
"Da scheint die Fantasie mit den 'Tatort'-Autoren durchgegangen zu sein. Das hat logischerweise nichts miteinander zu tun", stellt der Exit-Sprecher klar.
Fakt 4: Werden Wohnungen extra zum Sterben angemietet?
"Bei der in der Schweiz legalen Sterbebegleitung tötet der Patient sich selbst zu Hause", erklärt Sutter.
Fakt 5: "Mörder" - werden Schweizer Sterbehilfe-Organisationen tatsächlich wie im "Tatort" beschimpft?
"Mir wäre nicht ein einziger Vorfall bekannt. Selbst als die Selbstbestimmungsorganisationen aus aller Welt 2012 ihren Jahreskongress in der Schweiz abhielten und internationale radikale Christenorganisationen Aufrufe im Internet und in der Presse machten, standen während der ganzen Kongressdauer gerade einmal drei (!) Christen gegenüber dem Kongresshotel in Zürich und beteten friedlich Rosenkränze", beschwichtigt Sutter.
Fakt 6: Das Sterben als Video-Mitschnitt - wird die Sterbehilfe aufgezeichnet?
"Exit filmt die Sterbebegleitung nie, weil wir das Sterben für etwas Privates halten. Andere Organisationen wie zum Beispiel Life Circle zeichnen jedoch die Applikation des Medikamentes - also die orale Einnahme durch den Patienten oder das Öffnen der Infusion durch den Patienten - auf und übergeben es danach den Untersuchungsbehörden, damit kein Zweifel aufkommen kann, ob nicht etwa der Arzt das Medikament appliziert hätte", erklärt Bernhard Sutter.
Fakt 7: Wer kann ehrenamtlicher Sterbebegleiter wie die schöne Krankenschwester Nadine Carmenisch werden?
Exit setzt Fachwissen, Berufserfahrung, Lebenserfahrung, Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen, viel Zeit, Organisationsgeschick und einen ruhigen Kopf voraus. Oft sind das über 50-jährige Fachfrauen aus dem sozialen Bereich. Sie durchlaufen bei Exit eine einjährige interne Ausbildung und schließen diese an der Uni Basel ab. Davor steht ein längerer Auswahlprozess, danach sind Fallaufbereitungen, Seminare und ständige Weiterbildung Pflicht.
Fakt 8: Geht es Organisationen wie Dignitas oder Exit nur um Sterbehilfe?
"Der 'Tatort' wird wohl kaum den Themenkomplex der Bereiche Patientenverfügung, Palliativmedizin, Suizidversuchsprävention mit der selbstbestimmten Lebensbeendigung aufzeigen, damit ignoriert er die viel wichtigeren Themen und 'informiert' umso mehr an der Realität vorbei", kritisiert die Organisation Dignitas.
Den genannten Organisationen und ähnlich arbeitenden geht es um Selbstbestimmung am Lebensende, nur die wenigsten Mitglieder nehmen Sterbehilfe in Anspruch, da eine Patientenverfügung oft ein - aus ihrer Sicht - menschenwürdiges Sterben ermöglicht, beispielsweise durch das Aussetzen lebenserhaltender Maßnahmen.
Machtklüngel aus Politik-Kirche-Medizin
Selbstbestimmtes Sterben ist ein emotional stark aufgeheiztes Thema, wie auch die Debatte im deutschen Bundestag im November 2015 gezeigt hatte. Hier prallen extreme ethische Positionen aufeinander. "In Deutschland zeigen diverse Umfragen, dass rund 70 bis 85 Prozent der Bürger Selbstbestimmung am Lebensende wollen – aber wenn es um solche Freiheit geht, interessiert man sich ihn Berlin wenig dafür, was die Bürger wollen; der Machtklüngel Politik-Kirche-Medizin verhindert dies effektiv", prangert das Dignitas-Team an.
2015 haben die beiden großen Schweizer Sterbehilfeorganisationen nach eigenen Angaben mehr als 1200 Menschen in den Tod begleitet - rund 30 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Für 2016 wird ein weiterer Anstieg erwartet.