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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rammstein-Skandal Vermutlich muss die ganze Band zum Verhör
Ist das die Wende im Fall Lindemann? Gegen den Rockstar laufen Ermittlungen. Es geht um Sexualdelikte und Drogenmissbrauch. Jetzt stellen sich drängende Fragen.
Inhaltsverzeichnis
- Was wird Till Lindemann genau vorgeworfen?
- Wer steckt hinter dem Groupiesystem und wie funktioniert es?
- Welche Aspekte sind strafrechtlich relevant?
- Droht Lindemann jetzt Untersuchungshaft?
- Was sind die nächsten Schritte, wie geht es in dem Fall weiter?
- Was wird aus der Band und Lindemanns fünf Rammstein-Kollegen?
Die offizielle Mitteilung der Staatsanwaltschaft verändert die Lage im Fall Lindemann.* Zuvor gab es Vorwürfe des Missbrauchs, Recherchen wie die von t-online deckten ein Muster auf: Junge Frauen wurden dem Rammstein-Frontsänger systematisch zugeführt. Zwar machten das zwei Betroffene mit ihrem Namen, ihrer Geschichte öffentlich; doch auch wenn Shelby Lynn und Kayla Shyx zu Gesichtern des Skandals wurden: Es blieb bei Anschuldigungen – ein Verfahren gegen Till Lindemann gab es nicht.
Das ändert sich jetzt. Am Mittwoch bestätigt die Berliner Staatsanwaltschaft auf Anfrage von t-online: Es gibt Ermittlungen gegen den 60-Jährigen. Es werde "aufgrund mehrerer Strafanzeigen Dritter [...] sowie von Amts wegen durch die Staatsanwaltschaft Berlin ein Ermittlungsverfahren gegen Till Lindemann [...] eingeleitet". Dabei gehe es um Tatvorwürfe "aus dem Bereich der Sexualdelikte und der Abgabe von Betäubungsmitteln".
Weitere Angaben macht die Staatsanwaltschaft nicht. Auch, "um die laufenden Ermittlungen nicht zu gefährden". Es gilt die Unschuldsvermutung, Lindemann hat eine Anwaltskanzlei eingeschaltet, bestreitet die Vorwürfe. Derweil werden immer neue Details um den international bekannten Rockstar öffentlich. Ein undurchsichtiges System, das viele Fragen aufwirft. Wir beantworten die wichtigsten davon.
Was wird Till Lindemann genau vorgeworfen?
Der Musiker soll sich an jungen Frauen vergriffen haben, so der Vorwurf. Mehrere mutmaßlich Betroffene, die meisten davon anonym, schildern Übergriffe, teilweise sexuellen Missbrauch durch Lindemann. Schwer wiegt außerdem die Anschuldigung, er habe Frauen mittels K.-o.-Tropfen betäubt, um sie gefügig zu machen.
Dazu heißt es in dem Anwaltsschreiben seiner Kanzlei: "So wurde wiederholt behauptet, Frauen seien bei Konzerten von Rammstein mithilfe von K.-o.-Tropfen bzw. Alkohol betäubt worden, um unserem Mandanten zu ermöglichen, sexuelle Handlungen an ihnen vornehmen zu können. Diese Vorwürfe sind ausnahmslos unwahr."
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Frauen, die angeblich missbraucht wurden, haben sich bisher ausschließlich anonym über Berichte in der "Süddeutschen Zeitung", beim NDR, in der "Welt" oder im "Spiegel" öffentlich geäußert – auch unter eidesstattlicher Versicherung. Das bedeutet, sie würden sich strafbar machen, wenn sich ihre Aussagen als wahrheitswidrig erweisen. Den Vorwürfen zufolge sollen Frauen unter anderem Verletzungen von dem sexuellen Kontakt mit Lindemann davongetragen haben, auch von Bewusstlosigkeit während des Verkehrs ist die Rede.
Shelby Lynn, die Nordirin, die die Welle der Berichterstattung mit ihren Anschuldigungen seit dem 25. Mai ins Rollen brachte, spricht hingegen nicht von Missbrauch oder gar Vergewaltigung. Till Lindemann habe Sex mit ihr haben wollen, doch nachdem sie das abgelehnt habe, sei der Sänger nicht übergriffig geworden, er habe lediglich "aggressiv" reagiert.
Die 24-Jährige hat darüber hinaus den Vorwurf in die Welt gesetzt, unter Drogen gesetzt worden zu sein. Lynn habe Erinnerungslücken, könne sich Blutergüsse an ihrem Körper nicht erklären. Seitdem ist von dem mutmaßlichen Einsatz von K.-o.-Tropfen im Umfeld der Rammstein-Konzerte die Rede, Belege gibt es dafür nicht. Experten weisen darauf hin, dass solche Betäubungsmittel nur maximal zehn Stunden im Blut oder Urin nachgewiesen werden können.
Außerdem hat Shelby Lynn mit ihrem Erfahrungsbericht vom Rammstein-Konzert am 22. Mai in der litauischen Hauptstadt Vilnius ein System aufgedeckt: Recherchen von t-online und anderen Medien konnten das beschriebene, sehr gezielte Groupie-Casting für Till Lindemann bereits rekonstruieren.
Wer steckt hinter dem Groupiesystem und wie funktioniert es?
Ein systematischer Beschaffungsprozess, der Lindemann mit jungen Frauen versorgte? So stellt es sich nun dar. Was davon strafrechtlich relevant ist, steht allerdings infrage. Denn auch Frauen, die einvernehmlich mit dem Sänger Sex hatten, waren Teil dieses Castingsystems: Hier erzählt eine dieser Frauen ihre Geschichte – und deckt damit auch neue Details in der Lindemann-Affäre auf.
Denn nicht nur bei Rammstein-Konzerten und den sogenannten "Row Zero"-Frauen, also den weiblichen Fans in der ersten Konzertreihe, kam es zu Rekrutierungen. t-online-Recherchen können die Systematik dahinter auch für die Solotour von Till Lindemann belegen. Dabei häufig Dreh- und Angelpunkt: die Russin Alena Makeeva.
Sie ist seit Jahren mit dem Rockstar auf Tour und "immer in seinem Dunstkreis", wie Zeuginnen berichten. Sie eröffnet WhatsApp-Gruppen, lädt zu Aftershowpartys ein und gibt jungen Frauen Handlungsanweisungen, wie diese sich zu kleiden haben, wie sie aussehen sollen. Sie selbst nennt sich "Casting-Direktorin". Rammstein distanziert sich von ihr: Sie sei nie Teil der Band oder in deren Namen tätig gewesen. Es handle sich um eine "Till-Lindemann-Bekannte".
Welche Aspekte sind strafrechtlich relevant?
Die Staatsanwaltschaft spricht von "Tatvorwürfen aus dem Bereich der Sexualdelikte und der Abgabe von Betäubungsmitteln". Letzteres kann bedeuten, dass bei den Backstagepartys Drogen wie Speed, Kokain oder Marihuana im Einsatz waren und Lindemann diese "abgegeben" hat. Es kann sich aber auch auf den Vorwurf beziehen, Lindemann habe Frauen K.-o.-Tropfen verabreicht.
Schwerer dürften mögliche Straftatbestände im "Bereich der Sexualdelikte" wiegen. Im Sexualstrafrecht wird "sexuelle Nötigung/Vergewaltigung" unter dem Paragrafen § 177 StGB geregelt. Dieser ist durchaus komplex, das "Sexualstrafrecht hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder verändert", so Nikolai Odebralski. Er ist Rechtsanwalt für Sexualdelikte in einer Fachkanzlei für Sexualstrafverfahren und Autor des Buches "Strafverteidigung in Sexualstrafverfahren".
Nikolai Odebralski
Der Strafverteidiger ist seit 2010 bundesweit tätig, sein Spezialgebiet: Sexualdelikte. Jährlich bearbeitet er "weit über 500 Strafverfahren", wie er auf seiner Homepage selbst über sich sagt.
Wichtigster Punkt dabei: die Änderung der Gesetzgebung im Jahr 2016. Seitdem gilt der im Volksmund unter dem Prinzip "Nein heißt Nein" gefasste Grundsatz. Brauchte es früher immer ein Gewaltelement für die Verurteilung eines Sexualdeliktes bei Erwachsenen, ist seit nunmehr sieben Jahren ein anderer Punkt entscheidend: Die sexuelle Handlung muss gegen den "erkennbaren Willen einer anderen Person" vorgenommen worden sein.
Dann droht eine "Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren". Die juristische Bewertung solcher Fälle sei allerdings "hochkompliziert", so Odebralski. Vor Gericht nachzuweisen, dass eine Handlung gegen den "erkennbaren Willen" durchgeführt wurde, gelinge nur selten: "Wenn eine Frau später zum Beispiel davon spricht, 'starr vor Schock' gewesen zu sein, ist nicht klar, ob dies für den notwendigen Straftatbestand ausreicht."
Der Anwalt verweist darauf, dass die meisten solcher Fälle nur zwischen zwei Personen, der mutmaßlich Geschädigten und dem Beschuldigten ausgetragen werden – "nur selten gibt es Zeugen oder Beweismittel wie Videoaufnahmen", sagt Nikolai Odebralski. Dann stehe oft "Aussage gegen Aussage".
Droht Lindemann jetzt Untersuchungshaft?
Der Beschuldigte in der Sache ist klar: Till Lindemann. Er ist eine Person des öffentlichen Lebens, einer der erfolgreichsten Rockstars des Landes, dementsprechend besteht ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit daran, dass über die Vorwürfe gegen ihn berichtet wird. Doch haben die Ermittlungsbehörden eine Handhabe, können sie den Rammstein-Frontmann beispielsweise in Untersuchungshaft stecken, solange die Vorwürfe nicht aufgeklärt sind?
"Das halte ich für sehr abwegig", urteilt Odebralski. Zwar sei es grundsätzlich möglich, Tatverdächtige zu inhaftieren, aber dafür müssten sehr gute Gründe vorliegen. Der Gesetzgeber nennt "Wiederholungsgefahr oder Fluchtgefahr" als Beispiele, wobei Letzteres bei einem Prominenten wie Lindemann wenig wahrscheinlich erscheint – selbst wenn er sich derzeit wegen seiner Tour im europäischen Ausland befindet. "Auch der Verdacht eines Schwerstverbrechens stellt einen Haftgrund dar", fügt Odebralski außerdem an. Bei Missbrauch von Widerstandsunfähigen oder Vergewaltigung sprechen Juristen von schweren Straftaten.
Laut Odebralski ist "das Eindringen in den Körper" bei Sexualdelikten entscheidend. Es müssten also Fälle vorliegen, in denen es nicht darum geht, dass Lindemann Frauen oberflächlich berührt hat, zum Beispiel an der Brust – es gehe bei der Bewertung der Schwere der Straftat also auch um die Frage, ob Vaginal-, Anal- oder Oralverkehr vorgelegen habe.
Was sind die nächsten Schritte, wie geht es in dem Fall weiter?
Ein Ermittlungsverfahren ist bereits eingeleitet, das heißt: Es laufen die ersten Schritte und diese übernimmt die Polizei. Am Anfang solcher Verfahren stehe immer die "genaue Anhörung", so Nikolai Odebralski. Dies bedeute vor allem, dass die "Daten der betroffenen Personen" gesammelt würden, danach werden diese "angeschrieben und vorgeladen".
- Exklusive t-online-Recherche: Lindemann-System komplexer als gedacht
Im Fall Lindemann gibt es schon jetzt eine Besonderheit, so der Strafrechtsexperte. Da es sich um Strafanzeigen Dritter handelt, wie die Staatsanwaltschaft mitteilen ließ, "müssen die Zeugen aussagen und können die Aussage nicht verweigern", da sie nicht selbst als Geschädigte auftreten und nicht verwandt oder verschwägert sind mit "am Tatgeschehen beteiligten Personen". t-online ist eine Zeugin in dem Verfahren bekannt. Infrage kommen vor allem Bekannte oder Freunde, die von mutmaßlichen Straftaten Lindemanns gehört haben oder davon auf anderem Wege mitbekommen haben. Odebralski spricht in dem Zusammenhang vom "sozialen Umfeld der vermeintlich Geschädigten".
Im nächsten Schritt müssen die Ermittlungsbehörden alle Erkenntnisse dokumentieren und eine Akte für den Fall Till Lindemann anfertigen. Diese wird an die Staatsanwaltschaft übergeben, erst dann kann in einem juristischen Schritt entschieden werden, ob es zu einer Anklage kommt.
Was wird aus der Band und Lindemanns fünf Rammstein-Kollegen?
Bis Till Lindemann als Beschuldigter Stellung beziehen muss, kann viel Zeit vergehen. Er wird erst am Ende des Ermittlungsverfahrens und nach Abschluss der Dokumentation vorgeladen. Eine Anhörung erfolgt laut Nikolai Odebralski in solchen Fällen selten auf persönlichem Weg. Till Lindemann wird also nicht zur Wache marschieren müssen und sich dort den Fragen der Polizei stellen.
"Sein Anwalt wird Akteneinsicht anfordern und sich dann schriftlich im Namen seines Mandanten einlassen", erklärt Odebralski den Ablauf des Verfahrens. Möglicherweise haben Lindemanns fünf Bandmitglieder, Richard Kruspe, Paul Landers, Oliver Riedel, Christoph Schneider und Christian "Flake" Lorenz, dann schon ausgesagt. Sie kommen laut des Experten als potenziell wertvolle Zeugen in dem Verfahren infrage. Schließlich haben diese über Jahre hinweg engsten Kontakt zum Beschuldigten gepflegt, waren mit ihm über Wochen und Monate auf Tour – ebenso wie Alena Makeeva, die selbst ernannte "Casting-Direktorin" und mutmaßliche Mittäterin.
*Die Berliner Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren gegen Till Lindemann am 29. August eingestellt. Es konnten keine Belege für ein strafbares Verhalten gefunden werden. Hier lesen Sie die Details zu der Entscheidung. Damit handelt es sich bei dem Sänger der Band Rammstein weder offiziell um einen Tatverdächtigen noch um einen Beschuldigten.
- Eigene Recherchen
- Anfrage bei der Berliner Staatsanwaltschaft
- Telefonat mit Rechtsanwalt und Strafverteidiger Nikolai Odebralski
- gesetze-im-internet.de: "Strafgesetzbuch (StGB) § 177 Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung"