Sport Mythos Paris: Schicksalsort für Tennis-Helden
Eine Kolumne von Marc L. Merten
Paris ist die Stadt der Liebe. Steffi Graf kann davon ein Lied singen. "La vie en rose". Hier hat die Gräfin zwei ganz besondere Liebschaften erlebt. Mit dem Tennis. Und mit Andre Agassi. Während letztere in den Straßen der französischen Hauptstadt begann und noch heute andauert, verlief erstere von 1987 bis 1999. Es waren die "Schicksalsjahre einer Gräfin", und sie spielten an der Porte d’Auteuil in Roland Garros.
Auf dem heutigen Centre Court Philippe Chatrier ging am 6. Juni 1987 ein neuer Stern am Tennishimmel auf. Die große Martina Navratilova unterlag in einem dramatischen Finale einer blonden, hoch aufgeschossenen 17-Jährigen, die sie später als "verflixtes Reh" bezeichnen würde. An diesem Tag, als die heutigen deutschen Vorzeigetennisspielerinnen Angelique Kerber, Andrea Petkovic und Julia Görges noch gar nicht geboren waren, katapultierte sich Steffi Graf in den Tennis-Olymp.
Schicksalsort Paris – auch für Boris Becker
Zwölf Jahre später, in einem nicht minder aufregenden und emotionalen Finale, siegte Graf erneut. Diesmal war ihre Gegnerin die eigentlich übermächtige, aber zickige Martina Hingis, die erst das Publikum gegen sich aufbrachte und anschließend von der mittlerweile fast 30-jährigen Deutschen abgekocht wurde. Es war der letzte Grand-Slam-Titel der Brühlerin, der krönende Abschluss einer mirakulösen Karriere. Wie passend, dass an diesem Abend der letzte Akt ihrer Liebe zu den French Open den Beginn ihrer Liebe zu Andre Agassi markierte. Schicksal eben.
Ein anderer Deutscher hatte das Schicksal in Roland Garros vielfach herausgefordert. Und verloren. Für Boris Becker bedeuten die French Open die einzige leere Stelle in einer reich gefüllten Vitrine. Von überall her hat der Mann, der Leimen zu einer Weltstadt machte, silberne, goldene und gläserne Pokale aller Form und Größe mit nach Deutschland gebracht. Doch Paris gewann er nie. Der Karriere-Grand-Slam blieb ihm verwehrt. Genauso wie anderen großen Tennisspielern von Pete Sampras bis Stefan Edberg. Bezeichnenderweise gelang dieses Kunststück, also der Gewinn aller vier Grand-Slam-Turniere, als erstem Spieler in der Open Era* ausgerechnet Graf-Ehemann Agassi. Schicksal eben.
Tränen, Rekorde und der Eiffelturm auf Sand
Kein Wunder also, dass es dann auch Agassi vorbehalten war, seinen Nachfolger zu ehren. Und was für ein würdevoller es war: Der Schweizer Roger Federer schaffte 2009 nach zuvor drei Finalniederlagen in Folge den vielleicht größten Sieg seiner Karriere. Die Bilder seiner Tränen, die er während der Siegerehrung vergoss, gingen um die Welt. Der Mann, der laut Boris Becker "das Tennis mit Schönheit, Technik, Koordination und Beinarbeit" verändert hat und selbst von seinem größten Rivalen Rafael Nadal als "bester Tennisspieler der Tennis-Geschichte" bezeichnet wird, hatte die Welt der gelben Filzkugel bereits mit Rekorden überflutet. Doch auf dieses Meisterstück musste er so lange warten wie auf keines zuvor. Schicksal eben.
Derjenige, der Federer das Warten so unerträglich lang gemacht hatte, war jener große Rivale Rafael Nadal. Insgesamt viermal hat der Spanier den Schweizer in Paris im Finale bezwungen. Sechs Mal hat er das Turnier bereits gewonnen. Und das, obwohl er bisher nur sieben Mal angetreten ist. Der Centre Court Philippe Chatrier ist sein ganz persönliches Wohnzimmer. "Eiffelturm auf Sand" wird der Mallorquiner genannt. Auch dank seiner außerirdischen Paris-Bilanz von 45 Siegen aus 46 Spielen. Gerade einmal lächerliche 13 Sätze hat er in all diesen Spielen abgegeben. Dabei spielt man in Paris über drei Gewinnsätze. Kaum einer glaubt, dass ihm einer in diesem Jahr den siebten Triumph streitig machen kann. Auch das wäre ein Rekord. Nadal würde Rekordsieger Björn Borg (sechs Siege) endgültig ablösen.
Schicksalhaftes Finale 2012: Federer gegen Nadal?
Wäre da nicht dieser Federer. Im doppelten Sinne. Denn der hat Nadal in diesen ersten Tagen des Turniers bereits in den Schatten gestellt und den ersten Rekord des Turniers eingeheimst. Sein Zweitrunden-Sieg über den Rumänen Adrian Ungur war der 234. Sieg Federers bei einem Grand-Slam-Turnier. Ein Sieg mehr als ein gewisser Jimmy Connors. Für Federer zählen in Paris aber nicht nur Rekorde und der Titel. Er liebt das Turnier, die Stadt, die Fans - und sie lieben ihn. Nadal mag von den Zuschauern als Dominator zelebriert werden. Doch "Rodge", wie die Pariser den sprachgewandten Schweizer nennen, ist schon seit Jahren ihr König der Herzen. Und so würde es in einem neuerlichen Finale zwischen Nadal und Federer auch nicht nur um Tennis, sondern auch um die Liebe gehen. Schicksal eben.
* Die Open Era (dt. Offene Ära) im Tennis begann im Frühjahr 1968. Seitdem sind auch professionelle Tennisspieler zu den wichtigsten Turnieren zugelassen, einschließlich der Grand-Slam-Turniere. Dies war zuvor nur Amateuren gestattet. Seit dem Beginn der Open Era tragen viele bekannte Turniere den Begriff "Open" in ihrem Namen, z. B. die Australian Open oder die US Open.
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