Die subjektive Sicht zweier Autoren auf ein Thema. Niemand muss diese Meinungen übernehmen, aber sie können zum Nachdenken anregen.
Schon vor EM-Start Der nächste Fehler
Neuer soll bei der EM im Tor stehen, ter Stegen auf der Bank Platz nehmen, Nübel muss gehen. Hat sich der Bundestrainer mit diesen Entscheidungen verzockt?
Es sind nur noch wenige Tage bis zum Eröffnungsspiel der Fußball-EM in München zwischen Deutschland und Schottland. Die Nationalmannschaft hat das letzte Testspiel vor dem Turnier gedreht, 2:1 gegen Griechenland gewonnen und die aufkommende Euphorie befeuert. Aber: Spätestens jetzt hat Deutschland auch eine große Torwartdiskussion. Nachdem sich Bundestrainer Julian Nagelsmann auf Manuel Neuer als Nummer eins für das Turnier festgelegt hat, patzt der 38-Jährige in einer außergewöhnlichen Regelmäßigkeit.
Im Champions-League-Halbfinale mit dem FC Bayern verschuldete er im Rückspiel gegen Real Madrid das zwischenzeitliche 1:1 und leitete damit das Aus ein. Am letzten Bundesliga-Spieltag gegen die TSG Hoffenheim gingen drei der vier Gegentore auf seine Kappe. Im vorletzten Testspiel vor dem EM-Start gegen die Ukraine verunglückte ein Chipball, der fast das 0:1 und damit die Niederlage bedeutet hätte. Und gegen Griechenland ließ er einen Torschuss direkt vor die Füße des Gegners abprallen – das bedeutete das 0:1.
Neuer-Kontrahent und Weltklassetorhüter Marc-André ter Stegen muss trotzdem auf der Bank Platz nehmen. Nagelsmann bekräftigte nach dem Griechenland-Spiel bei RTL: "Ich lasse keine Diskussion aufkommen, auch wenn es jeder probiert." Wirklich verstehen kann das der Torwart des FC Barcelona nicht. "Der Trainer hat die Entscheidung getroffen, die akzeptiere ich, auch wenn ich nicht der gleichen Meinung bin", so ter Stegen.
Und auch viele andere können das nicht verstehen. t-online fragte Leserinnen und Leser: Ist Manuel Neuer die richtige Nummer eins fürs DFB-Tor bei der Heim-EM? Bei knapp 78.000 Teilnehmern (Stand 8. Juni, 14.30 Uhr) beantworteten 71 Prozent die Frage mit "Nein". Und so stellt sich noch vor Turnierstart die Frage:
Ist die Entscheidung pro Neuer der größte Fehler von Nagelsmann?
Ja, Nagelsmann riskiert die Heim-EM – völlig unnötig
Pinke Trikots, neue Spieler, gute Laune: Nagelsmann und die Nationalelf haben es geschafft, eine Euphorie in Deutschland zu entfachen, die noch vor wenigen Monaten niemand für möglich gehalten hätte. Das ist umso erstaunlicher beim Blick auf die Bilanz der Ära Nagelsmann. Die weist nämlich nur vier Siege und zwei wirklich überzeugende Auftritte auf – in acht Spielen.
Nagelsmann hat also einiges richtig gemacht – aber sicher auch einiges falsch.
Sein größter Fehler ist eindeutig die Entscheidung für Neuer. Ohne Not. Im vollen Bewusstsein, dass Neuer 38 Jahre alt, verletzungsanfällig und schwankend in den Leistungen ist. Dass er statistisch zu den schwächsten Torhütern der Bundesliga gehört.
Natürlich konnte Nagelsmann nicht ahnen, dass Neuer vor der EM in das größte Leistungsloch seiner Karriere schlittert. Dennoch gab es keinen Grund für dieses frühe Bekenntnis. Erst recht mit Top-Torhütern wie ter Stegen und Nübel neben Neuer. Dass der Bundestrainer Nübel nach Hause schickt, ist der nächste Fehler.
Was nun? Eine Rolle rückwärts kurz vor dem Eröffnungsspiel? Neuer auf die Bank setzen, ohne zu wissen, wie er darauf reagiert? Weiter auf Neuer setzen und Fehler in Kauf nehmen? Nagelsmann hat sich selbst in eine Zwickmühle manövriert. Er riskiert die Heim-EM.
Nein, denn wenn es losgeht, ist Neuer voll da
Bei aller Hochachtung für die sportliche Leistung von Marc-André ter Stegen: Manuel Neuer ist der beste Torhüter seiner Generation, vielleicht sogar der beste Torwart, den man bisher gesehen hat. Selbstverständlich muss er bei der EM im Tor stehen. Bundestrainer Julian Nagelsmann hat also richtig entschieden.
Neuer ist Weltmeister, zweifacher Champions-League-Sieger, elffacher Deutscher Meister. Und einer der echten wenigen Weltstars im DFB-Kader. Steht er auf dem Platz, hat jeder Gegner Respekt. Das wird in den EM-Spielen sehr helfen.
Neuers Probleme in den vergangenen Wochen und Monaten sollten nicht zu hoch gehängt werden. Ja, er ist zum Saisonstart verletzt ausgefallen. Aber anschließend absolvierte er 23 von 26 Bundesliga-Partien und steht damit aktuell wieder voll im Saft. Ein Fehler wie im Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid kann jedem Top-Torhüter dieser Welt mal passieren – Oliver Kahn wird das bestätigen.
Und ein, zwei kleine Unachtsamkeiten in Testspielen vor dem EM-Start dienen auch nicht als Gradmesser. Nach einer langen Saison können Unkonzentriertheiten auftreten. Ganz sicher: Sobald das Turnier losgeht, ist Neuer voll da. Denn erfahrene Weltklasse-Sportler wie er wissen ganz genau, wann es drauf ankommt.
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