Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutschlands neuer Kapitän Zerfressen von Ehrgeiz
Mit Joshua Kimmich übernimmt ein äußerst erfahrener Akteur das Kapitänsamt beim DFB. Einer, der bereits am Scheideweg seiner Karriere stand.
Von der Nationalmannschaft berichtet Noah Platschko
Er war niedergeschlagen und ratlos, die Enttäuschung des blamablen Ausscheidens bei der WM in Katar war ihm noch anzusehen. Und als Joshua Kimmich nach dem 4:2-Sieg über Costa Rica und dem damit verbundenen Vorrunden-Aus vor die Pressevertreter trat, wählte er drastische Worte.
"Das ist für mich der schwierigste Tag meiner Karriere. Das ist für mich schon nicht einfach zu verkraften, weil ich persönlich mit dem Misserfolg in Verbindung gebracht werde", offenbarte der damals 27-Jährige akute Selbstzweifel.
Mehr noch: Kimmich sprach über seine "Angst, in ein Loch zu fallen". Es waren die Aussagen eines Spielers, der am Ende eines kräftezehrenden Jahres vor allem eines brauchte: eine Pause. Abstand vom Hamsterrad Profifußball, das sich nur wenige Wochen später – kurioserweise mit einem Trainingslager der Bayern in Katar – munter weiterdrehte.
Kimmich: Auf der Suche nach Perfektion
Weniger als zwei Jahre später ist Kimmich neuer Kapitän der Nationalmannschaft, er folgt auf den zurückgetretenen İlkay Gündoğan. Nach dem entstandenen Führungsvakuum durch die Rücktritte der Weltmeister Manuel Neuer und Thomas Müller wird Kimmich künftig der sein, der beim Betreten des Feldes die Binde am Arm – und damit eine Menge Verantwortung tragen wird.
Denkt man heute zurück an die Worte Kimmichs nach dem Scheitern von Katar, gaben sie schon damals einen Einblick in dessen Seelenleben und unterfütterten einen Anspruch, den ein junger Mann an sich selbst und seine Teamkollegen stellt. Sie zeigten die verletzliche Seite eines Spielers, der auf dem Platz von Ehrgeiz zerfressen ist, auf der Suche nach Perfektion und den ganz großen Erfolgen.
Diesen Eindruck des (über)idealistischen Strebens nach dem Maximum bestätigte gut neun Monate nach dem blamablen WM-Aus von Katar der damalige Bundestrainer Hansi Flick. Er attestierte seinem Schützling eine Mentalität, vergleichbar mit jener der früheren Basketballgrößen Michael Jordan und Kobe Bryant.
Es war ein Vergleich, der sowohl Flick als auch Kimmich Häme im Netz einbrachte, in seiner Aussagekraft aber durchaus treffend erschien – ohne dabei Kimmich sportlich mit den beiden US-Superstars auf eine Stufe zu stellen. Kimmich gehe voran und sei "ein Vorbild für alle Spieler", sagte Flick damals schon. Eine Vorbildfunktion, die ihm im Winter 2021, gut ein Jahr vor der Katar-WM, noch etliche Menschen absprachen.
Zweifel an Kimmichs Startelftauglichkeit
Mit seiner Entscheidung, sich zunächst nicht gegen das Coronavirus impfen zu lassen, hatte Kimmich bereits vor gut drei Jahren eine medial überhitzte Debatte darüber ausgelöst, inwieweit ein Nationalspieler Vorbild sein müsse. Damals stellte sich Kimmich der auf ihn einprasselnden Kritik – und fand mit offener Kommunikation nach außen einen Weg, seine Entscheidung sowohl für als auch gegen eine Impfung nachvollziehbar darzustellen.
Bereits damals galt Kimmich als potenzieller Bayern- oder DFB-Kapitän. Aufgrund seiner Leistungsschwankungen insbesondere in der Saison 2023/2024 kamen allerdings gewisse Zweifel auf, ob Kimmich sportlich überhaupt den Ansprüchen eines Kapitäns genügt – und ob er überhaupt in eine erste Elf gehört.
Damit einhergehend kristallisierte sich eine Debatte heraus, für die Kimmich selbst wiederum wenig konnte: die Frage nach seiner Position. In den Monaten vor der Heim-EM stritt die Nation darüber, wo der Bayern-Spieler denn wohl am besten aufgehoben sei. Im defensiven Mittelfeld neben Toni Kroos, auf der rechten Außenbahn oder eben doch nur auf der Ersatzbank.
Weiter auf der rechten Seite
Trainer Nagelsmann entschied sich für Variante 2 – und bewies damit ein goldenes Händchen. Denn auf der von Kimmich vermeintlich ungeliebten Rechtsverteidigerposition – die er im Laufe der vergangenen Saison auch unter Thomas Tuchel beim FC Bayern bekleiden musste – blühte Kimmich auf.
In einer modifizierten Nationalmannschaft überzeugte er als Rechtsverteidiger und trug somit wesentlich zu einer guten, wenn auch am Ende unbefriedigenden Europameisterschaft im eigenen Land bei.
In dieser Position sieht ihn Nagelsmann auch in Zukunft – möglicherweise auch in Ermangelung erstklassiger Alternativen, aber vor allem, weil er sich auf seinen neuen Kapitän verlassen kann. Kimmich selbst ist die Debatte schon ewig leid, wie er am Dienstag erneut verlauten ließ. "Ich hoffe, dass man bei der EM gesehen hat, dass ich auch als Rechtsverteidiger Spaß habe und dass wir das Thema bald mal begraben können." Er selbst sehe es "als Stärke an, dass ich sowohl rechts als auch in der Mitte vor der Defensive spielen kann", sagte er, und werde sich "niemals einer Position verschließen."
Und auch in der Gunst der Fans konnte der trotz seiner mittlerweile 29 Jahre spitzbübisch aussehende Münchner punkten. Von rund 8.000 t-online-Usern sehen rund 64 Prozent und damit fast zwei Drittel der Befragten Kimmich als den richtig ausgewählten neuen DFB-Kapitän. Allen voran er selbst wird dieses in ihn gesetzte Vertrauen mit Leistung auf dem Platz zurückzahlen – und nicht mehr das Gesicht des Misserfolgs sein wollen.
- DFB-Pressekonferenz mit Joshua Kimmich vom 3. September 2024
- Aussagen von Joshua Kimmich in der Mixed Zone am 1. Dezember 2022
- kicker.de: "Kimmich ist längst geimpft"
- t-online.de: "Der Erwartungsdruck ist schon groß genug"
- Eigene Recherche